Aleppos neuer Gouverneur

28.08.2012, 04:52 apxwn Blog syrien

Muhammed Wachid Akkad und Marat MusinNeben der Reportage aus Aleppo hat Marat Musin von ANNA-News mit dem neuen Gouverneur von Aleppo, Muhammed Wachid Akkad, gesprochen. Das Interview wurde am 24.08.2012 geführt und am heutigen Tag veröffentlicht. Themen sind, grob über den Daumen, die allgemeine und wirtschaftliche Lage in der Stadt, die Flüchtlingssituation und auch ein kleiner Exkurs in die chemische Industrie der Stadt.

Die Videoaufnahmen des Interviews stellen keinen besonderen Mehrwert gegenüber einem Text dar, deswegen braucht es eigentlich keine deutsche Neuvertonung. Im und unter dem Text des Interviews kommen stattdessen ein paar Bilder aus Aleppo, wie Marat Musin sie vor einigen Tagen an ein paar russische Freunde gegeben hat.

Quelle: ANNA-News.

Marat Musin: Herr Gouverneur, Sie haben die Amtsgeschäfte in der Stadt erst vor drei Tagen, in einer extrem schwierigen Zeit, übernommen. Wie ist die derzeitige Lage in Aleppo?

Zivile OpferMuhammed Wachid Akkad: Aleppo wurde von Terrorbanden überfallen, und zwar von Brigaden, die zuvor in Afghanistan, Tschetschenien und anderen Ländern Krieg geführt haben. Leider werden sie von der Türkei unterstützt, mit der Syrien früher immer die besten Beziehungen gepflegt hatte. Doch jetzt unterstützt die türkische Regierung die Terroristen, die Grenzen sind praktisch offen und die Terroristen überqueren sie mithilfe türkischer Sonderkommandos. Diese Terroristen führen sich gegenüber den Einwohnern höchst aggressiv auf, es kam sogar so weit, dass sie mitten auf der Straße Waffen zusammenschafften und die Einwohner dazu aufforderten, sich diese anzueignen – Sinn der Sache war es, in Syrien das Szenario eines Bürgerkriegs zu entfesseln, doch gottlob ist es zu keinem Bürgerkrieg gekommen.

Marat Musin: Bitte sagen Sie, wann rechnen Sie damit, dass die Stadt endgültig von den Rebellenbanden befreit wird?

Muhammen Wachid Akkid: Da die Armee größere Zerstörungen der Bausubstanz vermeiden will – denn es handelt sich hier ja um unsere, keine fremde Stadt, wir, Bürger dieser Stadt, leben hier – ist es unmöglich, bestimmte Fristen zu benennen. Wir werden die Stadt Schritt für Schritt säubern, bis sie endgültig sicher ist.

Marat Musin: Herr Gouverneur, wie ernsthaft sind die Schäden, welche die Rebellen der Stadt zugefügt haben?

Muhammed Wachid Akkad: Zerstörungen als solche betreffen nicht mehr als zwei bis drei Prozent der Bausubstanz – das ist nicht das Problematische, das werden wir wieder aufbauen. Viel schlimmer ist die Zerstörung der Wirtschaft. Sie haben den Handelsbereich komplett zum Erliegen gebracht, ihn vollständig ausgeraubt. Die Rebellenbanden haben dort eine Menge an Fabriken zerstört: die Fabrik für Stoffe, die Olivenölproduktion, die Baumwollverarbeitung. Syrien war ja früher eines der größten Baumwoll-Exportländer der Welt. Das ist der größte Schaden. Sobald all das vorbei ist, werden wir daran gehen, alles wieder aufzubauen und allmählich versuchen, in unsere Häuser und zu unserem gewohnten Leben zurückzukehren.

Flüchtlingszentrum Al-Ishan (Aleppo)Marat Musin: Herr Gouverneur, wie ist die Moral der Einwohner von Aleppo, wie ist die humanitäre Lage – gibt es viele Flüchtlinge, und wie werden diese versorgt? Ist in der Stadt die Versorgung aller Stadtteile mit Elektroenergie gewährleistet? Wie wird das Problem mit dem Stadtgas gelöst?

Muhammed Wachid Akkad: Insgesamt ist die Situation stabil. Zu Beginn der Krise hatten wir in Aleppo einen Mangel an Brot. Die Brotfabriken haben einige Tage lang stillgestanden, das hat uns große Schwierigkeiten bereitet. Inzwischen haben sie die Arbeit wieder aufgenommen, und diese Schwierigkeiten sind vorbei. Weiterhin schwierig ist die Lage deshalb, weil viele Versorgungswege zwischen der Stadt und den Vororten von den Terroristen blockiert werden, allerdings ist die Gesamtsituation in der Stadt normal. Die Terroristen zielen bewußt auf die Wirtschaft, sie wollen, dass Syrien in seiner wirtschaftlichen Entwicklung um 20-30 Jahre zurückfällt, damit Syrien in dieser Hinsicht zum Beispiel Somalia ähnelt und damit der Staat Israel in dieser Region keine wirtschaftlichen Konkurrenten hätte.

Flüchtlingszentrum Al-Ishan (Aleppo)Marat Musin: Wo werden denn die Flüchtlinge aus den Stadtteilen, die von den Rebellenbanden besetzt werden, untergebracht? Wie werden sie mit Nahrungsmitteln versorgt?

Muhammed Wachid Akkad: In Syrien besteht eine enorme gesellschaftliche Solidarität der Menschen untereinander. Die Flüchtlingszahlen sind nicht allzu hoch, weil die Menschen, die aus den Zonen mit Kampfhandlungen fliehen mussten, größtenteils bei ihren Verwandten anderswo unterkommen. Zum Beispiel habe ich einen Bruder, eine Schwester und den Mann meiner Cousine derzeit bei mir in meinem Haus untergebracht. Sie sind zu mir gekommen und leben jetzt mit in meinem Haus.

Flüchtlinge zelten in den Straßen der Stadt (Aleppo)Außerdem gibt es gesellschaftliche Institutionen, die sich der Wohlfahrt verschrieben haben und materielle Hilfe leisten, die Menschen unterbringen. Vor einigen Jahren hat Syrien 4 Millionen Flüchtlinge aus dem Irak aufgenommen; zwei Millionen davon sind in Aleppo untergekommen. Wir haben früher ebenso Flüchtlinge aus dem Libanon aufgenommen, von denen rund 1,5 Millionen in Aleppo untergekommen waren. An Lebensmitteln haben wir genug und es reicht für alle, und tatsächlich ist es so, dass wir keine größeren Probleme durch die Flüchtlinge haben. Das, was man in den Medien meldet, also die syrischen Flüchtlinge in der Türkei, im Libanon und Jordanien, das sind tatsächlich einerseits die reicheren Leute, die ins Ausland gefahren sind und dort auf eigene Kosten die Zeit in Hotels verbringen und ihre Mittel in die Wirtschaft der Türkei, des Libanon oder Jordaniens stecken, und andererseits, die wirklichen Flüchtlinge, die in Flüchtlingslagern leben und derer es ungefähr 50.000 sind – das sind im Wesentlichen Verwandte bzw. die Familien der Terroristen.

Zelte in den Straßen von AleppoMarat Musin: Gab es Provokationen im Zusammenhang mit den Chemiebetrieben in der Stadt selbst oder in der Provinz Aleppo?

Muhammed Wachid Akkad: In Aleppo gibt es keine Betriebe, die auch nur irgendeine Art chemischer Waffen produzieren würden. Das weiss ich sicher aus meiner Arbeitspraxis. Bevor ich Gouverneur geworden bin, war ich Mitglied des Stadtrates und verantwortlich für den Industriebereich. Es gibt in Aleppo also keine chemischen Waffen. Wir haben ein Werk für die Wasseraufbereitung, das Trinkwasser herstellt. Dort gibt es Anlagen, die mit Chlor arbeiten, und dieses Chlor wird nur für die Wasseraufbereitung genutzt. Ja, es handelt sich dabei um ein Giftgas, sofern es an die Luft gelangt, aber in Wasser gelöst ist es ungefährlich. Es sind auch keine großen Mengen – unsere Vorräte daran reichen für die Wassermenge von zwei bis drei Tagen. Das zweite Werk, wo es ein potentiell gefährliches Gas gibt, ist ein Gasverflüssigungswerk für handelsübliche Gasflaschen. Dieses Gas ist Methan, es wird im Haushalt verwendet. Die Rebellen haben übrigens versucht, sich dieses Werks zu bemächtigen, allerdings wurde ihr Angriff von der Armee erfolgreich abgewehrt.

Heute passieren in Aleppo schlimme Dinge – die Rebellenbanden ermorden wahllos alle Regierungsbediensteten; sie gelten ihnen als Kuffār, die man umbringen muss. Zum Beispiel wurde unlängst ein Syrer ermordet, der in einem schwarzen Mercedes umherfuhr. Er war gar kein Regierungsbediensteter, sondern er wurde einfach erschossen, weil er einen schwarzen Mercedes fuhr – einen solchen Wagen halten die Rebellen für den Dienstwagen von Regierungsbeamten.

Marat Musin: Herr Gouverneur, die Republikanische Garde treibt die Säuberungen in Aleppo vorbildlich voran, und man kann davon ausgehen, dass diese Aktion in die Geschichte der Anti-Terror-Einsätze eingehen wird. Nach den Angaben allein für die vergangenen 24 Stunden sind 150 Rebellenkämpfer liquidiert und weitere 160 verwundet worden. Gibt es in diesem Zusammenhang vielleicht eine epidemiologische Gefahr, wie begegnet die Regierung der Stadt dieser Gefahr?

Strassen-Desinfektion (Aleppo)Muhammed Wachid Akkad: Es gibt bei uns Dienste, die nach Ende der Kampfhandlungen in die entsprechenden Gebiete fahren und innerhalb von 24 Stunden die Leichen wegschaffen. Mitunter brauchen sie auch länger, trotzdem werden sie komplett beräumt. Deshalb besteht keine epidemiologische Gefahr, es sind bisher kein größeres Auftreten von Infektionskrankheiten festgestellt worden. Unsere Krankenhäuser sind in etwa mittelstark ausgelastet, und wir gehen davon aus, dass es nun schon nicht mehr sehr wahrscheinlich ist, dass größere Patientenströme bevorstehen. In jedes Stadtviertel, das befreit worden ist, gehen die Dienste der Bürgerwehr (analog zu Katastrophenschutzdiensten – MM) hinein und führen eine Reinigung und Desinfektion der Straßen durch, nachdem die Leichen weggebracht wurden. Leider ist bei uns auch eine japanische Journalistin ums Leben gekommen, die allerdings illegal von der Türkei aus auf syrisches Territorium gelangt ist. Im Verlauf der Kämpfe kam sie ums Leben, wir konnten ihren Leichnam allerdings nicht bergen, denn sie wurde da bereits von den Rebellen weggeschafft.

Marat Musin: Herr Gouverneur, zum Schluss möchte ich Ihnen noch für Ihre freundlichen Worte über Russland danken. Was möchten Sie den russischen Bürgern übermitteln?

Muhammed Wachid Akkad: Ich möchte dem russischen Volk danken, seiner Führung, denn wir sind sehr dankbar dafür, dass Russland uns im UN-Sicherheitsrat unterstützt und mehrere Male von seinem Vetorecht Gebrauch machte. Das syrische Volk liebt Russland und schätzt das russische Volk. Zwischen unseren Ländern bestehen gute Beziehungen, die wir auch weiterhin festigen werden. Dabei hoffen wir auf ein baldiges Ende der Krise in Syrien.

Marat Musin: Herzlichen Dank!

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