Die Macht holt man sich in der Hauptstadt – dieses Axiom hat man inzwischen scheinbar auch in der Türkei begriffen. Die Unruhen verlagern sich nach Ankara; dabei sind die Forderungen der Protestler nach wie vor im Grunde negativistisch – Entlassung von korrupten Beamten, Stopp gewisser Reformen, Weggang Erdogans. Konstruktives kann man daran nicht sehr viel erkennen.

Die ideologische Sackgasse der Demonstranten wird langsam deutlich: Eine Alternative zu den Reformen der Islamisten von der AKP wäre eine Rückkehr zum reinen, “orthodoxen” Kemalismus. Dieser nun wiederum stützt sich in weiten Teilen auf das Bestreben einer Integration nach Europa, und diese Richtung ist sicher schon eine gewisse Zahl von Jahren nicht mehr praktikabel. Das meiste, was da noch wäre, ist für die Türkei heute nicht aktuell.

Von daher zeichnet sich ein Auftraggeber oder wenigstens insgeheimer Unterstützer der Unruhen ab: die noch verbleibende, von den Islamisten nicht ausgetauschte Obrigkeit aus Militär und Geheimdiensten, daneben oppositionelle Kemalisten. Die äußeren Sympathisanten haben sich auch bereits manifestiert: die Staaten des “Westens”. Viele der Regierungen oder der höchsten Staatsbeamten Europas und der USA haben sich den Protestlern gegenüber sympathisierend präsentiert und die türkische Regierung dazu aufgerufen, Kompromisse einzugehen. Dabei lassen die Alles-Nichts-Oder-Forderungen der Demonstranten gar keinen Raum für irgendwelche Verhandlungen oder Kompromisse.

De facto hat Erdogan jetzt drei Möglichkeiten, die anhaltende Revolte zu beenden. Die erste wäre es, aufzugeben und abzudanken. Was ja offenbar ausgeschlossen ist. Die zweite wäre es, seine Anhänger zu mobilisieren und auch auf die Straßen zu schicken. Die Gefahr dieser Variante ist aber offensichtlich: das droht mit einer Lage, die man in den Medien gern als “bürgerkriegsähnliche Zustände” bezeichnet. Die dritte Möglichkeit wäre eine türkische Version des Tiananmen. Hierbei kann Erdogan sich aber höchstwahrscheinlich nicht hundertprozentig auf die Armee verlassen, außerdem wäre das der endgültige Bruch der türkischen Islamisten mit dem Westen. Aber andere Verbündete hat Erdogan nach seinem katastrophalen Fehler, sich in den Krieg gegen Syrien hineinziehen zu lassen, nicht mehr. Eine Situation gleich der, in der sich Iwan Zarewitsch oder auch Ilja Muromez einst befanden.

Noch eine Unbekannte dieser Gleichung wären die in Syrien kämpfenden bewaffneten Militia. Genauer gesagt die, welche sich derzeit auf dem Gebiet der Türkei befinden. Dazu können die erfolgreichen Operationen der syrischen Armee im Norden in kürzester Zeit dazu führen, dass ungeschlagende bzw. fliehende Rebellengruppierungen in die Türkei zurückdrängen, unter denen es eben nicht nur flammende Revolutionäre, sondern – und das überwiegend – einfach nur banditische Elemente gibt. Aber beide Fraktionen kann man für Apfel & Ei zu einem Krieg mit sonstwem animieren. Während die Banditen einfach nur für Geld morden und zerstören, so sind die türkischen Islamisten für die Freaks von der Al-Nusra-Front zumindest Schismatiker, gegen die ein Dschihad auf jeden Fall an der Tagesordnung wäre.

Noch ein kleines Detail: die Kurden. Der seltsame Waffenstillstand auf den Zuruf Öcalans wird nicht lange halten, wenn die Kurden einmal Schwäche und Schwanken auf türkischer Seite wahrnehmen. Damit könnte Erdogans einziger Joker in seinem Verhältnis zur Generalität – nämlich die Befriedung der Kurden – sich in ganz kurzer Zeit in Luft auflösen.

Alles in allem ergibt sich für die AKP eine häßliche Wahl, nämlich die des geringeren Übels. Da muss Erdogan wohl durch, denn Aussitzen wird spätestens zum Beginn der mutmaßlichen “Operation Nordsturm” wahrscheinlich nicht mehr funktionieren.