Seinerzeit gab es das Rätsel zu lösen, aus welchem kühlen Grunde der “Zwergenstaat” Katar ein scheinbar vollkommen unbegreifliches Engagement im “Arabischen Frühling”, und insbesondere den Kriegen gegen Libyen und Syrien, an den Tag legte. Weshalb wurden in der arabischen Wüste Nachbildungen des Zentrums von Tripolis gebaut, warum waren ausgerechnet katarische Spezialeinheiten unter den Kräften, die am 22. August 2011 das reale libysche Tripolis ausschalteten? Wieso war Katar einer der Hauptsponsoren der Aggression gegen Syrien? Die Antwort damals lautete verallgemeinernd: Umverteilungskämpfe auf dem globalen Markt für Erdgas. Insbesondere ging es im Fall von Katar um die Auswirkungen einer indigenen Sättigung des US-amerikanischen Marktes, der dem Nahost-Gasriesen demnach nicht mehr als Abnehmer zur Verfügung stand, so dass den gigantischen Infrastrukturprojekten des Katar ohne eine Neuausrichtung der Absatzrouten die Sinnlosigkeit drohte.

Katars LNG-Flaggschiff und Lieblingsfrau des Emir Hamad bin Khalifa al Thani, die “Mozah”, am Regasifikationsterminal Bilbao

Nur auf den ersten, flüchtigen Blick scheint es befremdlich, dass ganz ähnliche Rangeleien um Verteilung und Transitrouten etwas mit den jüngeren Ereignissen in der Ukraine zu tun haben. Aber einmal kurz innegehalten, fällt einem ein: die Ukraine ist seinerzeit fast jährlich wiederkehrendes Thema im Zusammenhang mit den Erdgaslieferungen aus Russland gewesen. Die in der Prä-South-Stream-Ära wichtigsten Transportrouten für russisches Erdgas nach Europa verlaufen über die Ukraine. Gab es da nicht auch einmal etwas mit einem Kartellverfahren der EU-Kommission gegen Gazprom? Und Julia Timoschenko trug noch vor ihrem Knast-Karriereknick den inoffiziellen Kosenamen “Gasprinzessin”. Als wären das nicht Hinweise genug gewesen, dass es auch hier zu “Revolutionen” kommen muss.

Was hier in mehreren Teilen nun folgen soll, ist eine “für hierzulande” aufbereitete, ergänzte und teilweise erweiterte Übersetzung einer Analyse aus den Hinterzimmern der bekannten russischen Nachrichtenagentur ITAR-TASS (die bald, zu ihrem 110-jährigen Jubiläum, wieder zum Eigennamen aus Sowjetzeiten – TASS – zurückkehren will, sofern die Regierung als Gesellschafterin das genehmigt). Da es sich bei ITAR-TASS nun einmal um eine Nachrichtenagentur handelt, bei der Analysen und Meinungen bestenfalls Randthema sind, wurde der Text – wie die meisten der “Jahresrückblicke” für 2013 – dort nicht publiziert, sondern vom Autor u.a. mir zur Verfügung gestellt.

Das Thema ist zu komplex, als dass man es in einem einzigen Beitrag abhandeln könnte, deswegen folgt heute nur der erste Teil, der nichts anderes als eine Vorrede darstellt. Die weiteren Teile – dann schon speziell zur Ukraine und den Strategien der jeweiligen Interessensgruppen dort – folgen später, voraussichtlich aber nicht vor Ende kommender Woche. Hierunter also Teil 1 als Einstimmung.

Der globale Markt für Erdgas und seine Neuordnung

Die Schaffung eines globalen Marktes für Erdgas, das Erdöl als Energieträger ablösen kann, erweist sich zweifelsohne als einer der Faktoren für die vor unseren Augen entstehende neue Weltordnung. Dabei wird das Erdöl selbstverständlich nicht von der Bildfläche verschwinden, sondern auch weiterhin einen wichtigen Teil des weltweiten Energiehaushalts darstellen, wie dies zum Beispiel auch für die Kohle der Fall ist. Ungeachtet dessen sind Veränderungen allerdings bereits wahrnehmbar: laut einer Studie von BP betrug der Anteil des Erdöls als Energieträger auf dem Höhepunkt seiner Bedeutung im Jahre 1973 48 Prozent und wird sich bis zum Jahr 2030 auf 28 Prozent verringern. Gleichzeitig wird sich der Anteil des Erdöls an der Stromerzeugung bis zum Jahr 2030 auf 2 Prozent reduzieren:

After the oil price shocks of the 1970s, oil’s share in primary energy consumption fell from a peak of 48% in 1973 to 39% in 1985. Rising oilprices have again increased the burden of oil on the economy in recent years and oil has lost market share again – falling to 33% in 2011. We project this to fall further to 28% by 2030.

High relative prices have led to the substitution of oil by other fuels outside the transport sector where cheaper alternatives are available. Oil’s share in power generation, for example, fell from 22% in 1973 to 4% in 2011 and is forecast to decline to just 2% by 2030.

Quelle: BP Energy Outlook 2030; cf.: BP Energy Outlook 2035

Daten vom September 2013, Preise pro Mio. BTU. Quelle: stansberryresearch.com

Im Gegensatz dazu wird das Erdgas zunehmend an Bedeutung gewinnen: der weltweite Handel mit Erdgas wird bis zum Jahr 2030 jährlich im Mittel um 3,7 Prozent zulegen.

Die Schwierigkeiten des Gasmarktes sind von ganz grundlegender Natur:  auf Grund der besonden physikalischen Eigenschaften von Erdgas bestehen gewisse Herausforderungen im Zusammenhang mit dessen Transport. Auf Grund der ungleichmäßigen Verteilung der Regionen, in denen dieses Gas gefördert wird, sind stabile lokale Märkte entstanden, auf denen Erdgas aber zu sich wesentlich unterscheidenden Bedingungen gehandelt wird.

Unter diesen Märkten zeichnen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt die “vier großen” Schlüsselmärkte ab: der amerikanische, der russische, der europäische und der südostasiatische.

Dabei konnten Russland und inzwischen auch die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit im Energiebereich auf Grund eigener Erdgasvorkommen (in den USA auch Schiefergas) und der Entwicklung einer dazugehörigen Industrie sicherstellen. Die wesentlichen Verteilungskämpfe laufen jetzt um den europäischen und südostasiatischen Markt ab.

Allerdings stellt der Übergang zum Erdgas als einem Fundament des weltweiten Energiehaushalts neue Anforderungen an den Markt, was im Endeffekt zwangsläufig dessen Globalisierung mit sich bringt: die Schaffung eines weltweit einheitlichen Marktes für Erdgas und eine damit verbundene Angleichung der Erdgaspreise.

Transfers von Erdgas per Pipeline / LNG-Frachter 2012. Quelle: bp.com

In diesem Fall bekommen die Knoten- und Verteilungspunte des Erdgastransportsystems auf dem Festland wie auch auf den Meeren eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Die  Kontrolle über die zehn bedeutendsten Transportwege, unter denen die Straßen von Malakka, Bab al-Mandab und Hormus, der Suez- und Panamakanal, die Straße von Gibraltar, die Meerengen um Dänemark sowie der Bosporus weiterhin zu den wichtigsten zählen, wird dabei zu einem wichtigen Faktor. Gleiches gilt für die über das Festland führenden Erdgastrassen nach Europa und Südostasien (in erster Linie nach China). Sie führen durch die Gebiete des zentralasiatischen Teils der ehemaligen Sowjetunion, das uigurische autonome Gebit Xinjiang, durch Pakistan und die Ukraine. Die Bedeutung dieser Schlüsselregionen lässt sich einzig anhand der in ihnen stattfindenden Prozesse erschließen. Als Indikator für den Kampf um diese Länder und Regionen eignen sich ohne jeden Zweifel die verschiedenen “Farbigen Revolutionen” in ihren jeweils lokal unterschiedlichen Stadien und Intensitäten. Hierbei handelt es sich um eine neue Generation der Kriegsführung, die an die Stelle der bisherigen Kriege des Industriezeitalters treten. Sie schließen die Anwendung traditioneller Arten der Kriegsführung nicht aus. Es sieht aber alles danach aus, dass die offensichtlichen Fehlschläge der USA und der NATO im Irak und in Afghanistan diese dazu zwingen, sich in ihrer Rolle als Hauptakteure bei der Schaffung einer neuen Weltordnung auf eine effizientere Art der Kriegsführung zu orientieren, zu der unter anderem auch die „Farbigen Revolutionen“ als eine Unterart gehören.

Dabei lohnt es sich auf noch eine weitere Entwicklung hinzuweisen, welche freilich, den verhaltenen Reaktionen der Strategen des russischen Gazprom nach zu urteilen, bisher von selbigen durchweg als unwesentlich beiseite getan wird.

Es ist schon jetzt klar, dass Russland die “Schiefergas-Revolution” in den USA de facto verschlafen hat. Es geht gar nicht darum, dass Gazprom alle Kräfte und Ressourcen auf die Förderung von Schiefergas in Russland hätte werfen sollen. Nein, die Rede ist von etwas ganz anderem. Noch vor einem Jahr wurde der Vorstandsvorsitzende von Gazprom, Aleksej Miller, entgegen den Fakten und allem gesunden Menschenverstand nicht müde zu beteuern, dass die “Schiefergasblase” demnächst platzen wird. Solche Verlautbarungen hat die Führung von Gazprom auch schon ein, und auch zwei Jahre zuvor gemacht und hält weiterhin eisern daran fest. Wahrscheinlich erwarten den Schiefergasmarkt in Zukuft tatsächlich gewisse Probleme. Aber die Hartnäckigkeit, mit der die offensichtliche Existenz eines solchen Marktes geleugnet wird, lässt einen gegenüber jedweder Prognose, die von einer Verneinung des Offensichtlichen ausgeht, misstrauisch werden.

2008: Entkopplung des Erdgaspreises von dem des Erdöls durch die “Schiefergasrevolution”; Quelle: jasonmunster.com

Miller zieht aus all dem für sich folgenden Schluss: “Die USA stellen für uns keine Konkurrenz dar.” Eine Geringschätzung gegenüber den Perspektiven der tatsächlich stattfindenden “Schiefergasrevolution” hat allerdings dazu geführt, dass Gazprom die nun schon politisch bedeutendste Folge dieser Entwicklung übersieht: die Unabhängigkeit der USA im Bereich Erd- und Schiefergas hat den Druck auf Russland von Seiten derjenigen Erdgasproduzenten erhöht, die zuvor auf den Markt der Vereinigten Staaten orientiert waren.

In erster Linie ist die Rede natürlich von Katar. Das Ziel des “Arabischen Frühlings”, zu dessen treibenden Kräften Katar zählt, bestand in der Kontrolle über den wichtigsten Transitknotenpunkt im Nahen Osten: Syrien. Sich auf die skeptischen Einschätzungen aus dem Hause Gazprom stützend, verhielt sich der damalige russische Präsident Medwedew ebenso geringschätzig gegenüber den Bedrohungen durch “Regime changes” im Nahen Osten und ließ den Westen mit seinen Aufrührern und Revoluzzern beim Sturz der Regierung Gaddafi und der Ermordung des Oberst selbst gewähren. Außerdem legte Medwedew eine ausgesprochene Zurückhaltung gegenüber einem möglichen Sturz der Regierung Assad an den Tag und vertritt eine solche Sichtweise bis heute.

Auf diese Weise hatte die Unterschätzung der Perspektiven eines schier explosionsartigen Auftretens neuer Technologien auf diesem für Russland enorm bedeutenden Gebiet bereits zu einer falschen außenpolitischen Strategie geführt und es dem Westen gestattet, Russland bei der Schaffung von Fakten zu überholen. Der Preis für diese falsche strategische Einschätzung sind nicht nur finanzielle Einbußen (was schon allein schmerzlich genug wäre), sondern ein Verlust geopolitischer Positionen. Für Russland, das nach dem Zerfall der Sowjetunion in diesem Bereich ohnehin kaum erträgliche Rückschläge hinzunehmen hatte, ist ein solcher im Grunde vermeidbarer Fehler nahezu tödlich.

Eine ebensolche Lage lässt sich bei weiteren Technologien, die Zweifel an einer Zukunft Russlands als führenden Gasexporteur aufkommen lassen, beobachten. Die Rede ist von Technologien zur Förderung und Gewinnung von Energie aus Gashydraten. Zieht man die weltweite Verteilung von Gashydrat-Vorkommen in Betracht, so wird die Schaffung von Technologien zur Gewinnung selbiger die Erdgasexportmöglichkeiten Russlands vorhersehbar massiv einschränken. Die Rede ist dabei schon von konkret absehbaren mittelfristigen Entwicklungen. Schon jetzt hat Japan einen Standort für Testzwecke an der Gashydratlagerstätte auf Nankai Trough geschaffen.

Verteilung der Vorräte an Methanhydrat in den Weltmeeren. Quelle: siehe Bild, SPIEGEL

Dabei ist ausgerechnet Russland Vorreiter bei der Förderung von Gashydraten im westsibirischen Messojach-Feld gewesen. Doch eine Weiterentwicklung der dort noch zu Sowjetzeiten angewandten Fördertechnologien findet praktisch nicht statt.

Eine Unterschätzung dieser neuen Technologien erwächst meist aus der fälschlichen und äußerst beschränkten Vorstellung von deren wirtschaftlicher Ineffizienz. Das ist zunächst einmal tatsächlich so, doch beweist die Geschichte mit dem Schiefergas, dass bessere Methoden der Organisation einer Wertschöpfungskette auch mit einzelnen, für sich genommen verlustbringenden Gliedern, schließlich zu Synergieeffekten führen, welche die Produktion letztendlich gewinnbringend und effizient ausfallen lassen.

Leider ist Gazprom lediglich ein Produzent und Verkäufer von Erdgas, was sein Interesse an einer Betätigung außerhalb dieses Geschäftsfelds maßgeblich einschränkt, wenn man einmal von Image-Kampagnen mit branchenfremden Phänomenen wie Fussballmannschaften absieht. Wahrscheinlich ist das der Grund für die Geringschätzung gegenüber möglichen Perspektiven bei der Schaffung und Implementation neuer Technologien, die das heutige Bild von Grund auf verändern könnten.

In Anbetracht der außergewöhnlich weiten Verbreitung von Methanhydraten eignen sich diese (noch theoretisch) hervorragend als Haupterzeugnis auf dem künftigen globalen Gasmarkt. Da es nun ein offensichtliches Interesse an der Schaffung eines solchen globalen Marktes gibt, bedeutet das für die Entwicklung der Technologien, dass entsprechende Forschungen zu Gewinnung und Verarbeitung noch intensiver betrieben werden.

Nankai Trough, Japan: experimentell aus Methanhydrat gewonnenes Gas bei der Verbrennung. Quelle: jogmec.go.jp

Gazprom und Russland könnten sich vor die unangenehme Option eines Zusammenbruchs der gesamten auf heutige, traditionelle Technologien und Herangehensweisen ausgerichteten Politik gestellt sehen. In jedem Fall erweist sich eine Unterschätzung der Folgen einer “Schiefergasrevolution” in den USA als ein erstes und sehr beunruhigendes Alarmsignal für offenbar falsch ausgerichtete analytische und strategische Dienste des gigantischen russischen Erdgaskonzerns.

Nichtsdestoweniger sind die neuen Technologien ein zwar durchaus ernstzunehmendes, aber eher mittelfristiges Problem. Die Umgestaltung der Welt aber findet bereits jetzt statt.

(Fortsetzung)