Stellvertretend für viele zitiere ich Dike mit folgender Meldung, in der die Passivität und Zurückhaltung der ukrainischen Regierung zu den gewaltsamen Ausschreitungen beklagt wird oder nicht nachvollzogen werden kann:

“Wird Janukowitsch nicht von den Russen beraten? Es gibt doch Armee und Polizei. Warum tun die nichts? Wovor haben die Angst?”

Ich will eine Antwort versuchen, die aber etwas ausführlicher ausfallen wird.

”Proteste” in Daraa, März 2011

Was in der Ukraine vor sich ging und geht, hat, wenn man sich die Ereignisse vom Gesichtspunkt der dort angewandten Technologien betrachtet, durchaus große Ähnlichkeit mit den Ereignissen des “Arabischen Frühlings”. Inwieweit die Vorgänge nun gänzlich Projektcharakter haben oder wenigstens zu weiten Teilen spontan und natürlich sind, ist eine schwierige, aber erst einmal auch nicht allzu relevante Frage. Für den Moment ist es wichtiger, dass man anhand verschiedener bekannter Modelle des “Arabischen Frühlings” Vergleiche anstellen kann, welches dieser Modelle am ehesten den Vorgängen in der Ukraine entspricht, womit man die Ereignisse in Kiew und anderswo im Lande mit einem gewissen Verständnis dafür auseinandernehmen kann, was denn jeweils an Motiven dahintersteht.

”Proteste” in Kiew, Januar 2014

Und es ist eben das “syrische Modell”, das den Ereignissen in der Ukraine am nächsten kommt – mit einer Ergänzung: die Ereignisse in der Ukraine haben sich weit dynamischer entwickelt, woraus allein schon entsprechende Korrekturen dieses Modells folgen mussten; aber insgesamt gibt es bislang fast keine merklichen Unterschiede. Zum heutigen Zeitpunkt steckt die Ukraine ungefähr im selben Stadium wie Syrien im Frühsommer 2011. Die Konfrontation zwischen den Konfliktparteien ist an einem Höhepunkt angelangt, aber bislang ist der Rubikon, nach dem das Blutvergießen einsetzt, noch nicht überschritten. Die Opposition ist genauso hilflos und hat außer dem kleinsten gemeinsamen Nenner “die Regierung muss weg” kein einziges verständlich artikuliertes Ziel. Die inzwischen aufgetauchten kriminellen Banden stehen nicht unter Kontrolle dieser Opposition, sind ihrerseits noch schwach und haben keine eigene politische Struktur, die sie gezielt und effizient einsetzen könnte. Die Staatsmacht versucht weiterhin, den Gegner durch politische Winkelzüge auszuspielen und riskiert es nicht, hart durchzugreifen und den Gegner damit schachmatt zu setzen. Syrien im Frühjahr 2011, Ukraine im Winter 2013/2014.

Man kann nur spekulieren, was in der Ukraine weiter passiert. Gibt es eine weitere Eskalation, so kommt irgendwann (bald) ein Moment, an dem die kriminellen Banden zum bewaffneten Kampf übergehen – womit die Ereignisse weiter dem syrischen Modell folgen. Wenn ein solcher Moment nicht eintritt, so wird die “Revolution” höchstwahrscheinlich wirklich absaufen; Revolutionen leben durch Bewegung, in einer sich überstürzenden Verkettung an Ereignissen. Das ist wie bei einem Motorrad – es fällt um, sobald es zu langsam wird oder zum Stehen kommt.

Es sieht derweil aber eben nicht nach einer generellen Bereitschaft der Banden aus, zum bewaffneten Kampf überzugehen. Aufrufe des “Rechten Sektor”, langsam mal zu “ernsthafteren” Aktionen überzugehen, gibt es – aber hier greift wohl auch eine ukrainische oder generell slawische Eigenart: die Dinge passieren zu schnell. Es fällt den Menschen unter psychologischem Gesichtspunkt schwer, sich in so kurzer Zeit vom reinen Tumult auf gezielten Mord und Totschlag zu verlagern. Liefe das Chaos in Kiew noch ein halbes Jahr – dann schon eher. Prognosen über eine weitere katastrophale Eskalation hätten dann Hand und Fuss; zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht.

Sieht man sich die Ereignisse also mit dem Hintergrund des “syrischen Modells” an – also von der Gewissheit, hier seien sozialpsychologische Technologien am Werk – so scheitert die “Revolution” gerade. Sie hat keine Ziele, ist nicht zur weiteren Eskalation bereit und bleibt immer noch ein Lokalereignis ohne deutlich erkennbare, nachhaltige auswärtige Unterstützung. Die Autoreifen auf dem Maidan sind auch inzwischen alle – das Feuer der Revolution erlischt.

Links Tahrir, rechts Maidan: die bequemen und lappigen Turnschuhe sind für den Winter in Kiew denkbar ungeeignet, der Rest stimmt halbwegs.

Modelle sind natürlich nur Krückstöcke für die mentale Einordnung von Ereignissen; in Wahrheit ist es komplizierter. Umso mehr in der Ukraine. Will man die verschiedenen politischen Interessen, die es in der Ukraine gibt, in einem Modell anordnen, dann wird man unweigerlich scheitern, ebenso auch mit daraus abgeleiteten Prognosen und selbst mit objektiven Einschätzungen der aktuellen Lage. Politisch ist die Ukraine auch im friedlichen Grundzustand dem Chaos am nächsten.

Es kann hilfreich sein, sich einfach die Person Janukowitsch zu betrachten. Aus seiner Biografie kann man sogleich folgern, dass jemand mit einem solchen Lebensweg wohl kaum zu den Strategen zählen wird. Annahmen, dass er mit seiner Untentschlossenheit in den vergangenen Tagen in Wirklichkeit irgendwelche komplizierten geopolitschen Manöver im Hintergrund fährt, wären demnach nicht allzu stichhaltig. Im Knast lernt man, genau wie in den 1990er Jahren im postsowjetischen Raum, anderes: dass der Taktiker überlebt. Und dass Janukowitsch ein brillianter Taktiker ist, steht vollkommen außer Frage. Man braucht ihm nicht zu erklären, wie man einen Überlebenskampf gewinnt.

Sein Ziel liegt dabei auch auf der Hand – er muß unbeschadet und möglichst siegreich durch die 2015 kommenden Präsidentschaftswahlen gehen. Dadurch, dass er Julia Timoschenko kaltgestellt hat, brachte er sich selbst in eine schwierige Lage – er hat für diese Wahl keinen ernstzunehmenden Gegner mehr, keine Kontrastfigur, vor deren Hintergrund er sich profilieren und damit die Wahl gewinnen könnte. Ihm fehlt etwas, demgegenüber er das geringere Übel wäre. Über seine eigene Unpopularität ist er mit Sicherheit im Bilde. Und in dieser Hinsicht ist er in den Wochen der “Proteste” absolut richtig vorgegangen: er schuf sich Gegner, denen gegenüber er schlicht als Dichter und Denker, als genialer Lenker und als “Vater der ukrainischen Nation” erscheint.

Wiktor Fedorowitsch. Foto: Premier.gov.ru

Janukowitsch hat wie jedes beliebige ukrainische Staatsoberhaupt mit seinem Land aber noch ein weiteres, generelles Problem, das sich in der politischen Realität des Landes ein wenig wie das “n-Körper-Problem” in der Astronomie ausnimmt. In diesem Sinne ist die Ukraine wie ein Sonnensystem mit einem Massezentrum und gleich vier Objekten, deren “Geschwindigkeit” und “Koordinaten” man nicht alle gleichzeitig bestimmen kann. Die Einheit des Landes im Zentrum, gibt es vollkommen verschiedene Interessen von vier unterschiedlichen Regionen des Landes. Westukraine, Krim, Ostukraine, Zentrum. Jede Region hat ihre Spezifik und ihre eigenen Interessen. Alle Interessen auf einen Nenner zu bringen und dabei die Einheit des Landes zu gewährleisten ist schier unmöglich.

Die Präsidentschaftswahlen von 2010 gewann Janukowitsch durch die Stimmen des Ostens und des Südens. Als Präsident des gesamten Landes musste er aber alle Interessen bedienen – und das tat er, indem er die des Ostens und des Südens zurückstufte und die der Westukraine dagegen bevorzugte, womit der Einheit des Landes gedient werden sollte. Es geht nach wie vor nicht, all diese verschiedenen Richtungen unter einen Hut zu bringen; die Ukraine ist in ihrer Geschichte immer Teil etwas Größeren gewesen, und eine staatliche Unabhängigkeit bedeutet für sie das immerforte Leben an irgendwessen Tropf. Irgendwie lebt es sich so zwar, aber richtig aufstehen und eigenständig handeln ist unmöglich.

Es kann und wird im Rahmen einer “unabhängigen Ukraine” keine eindeutigen, alle zufriedenstellenden politischen Entscheidungen geben. Fordert man folglich von Janukowitsch “entschiedenes Handeln” bezüglich der Unruhen in Kiew und den regionalen Verwaltungen, so versteht man einfach die Eigenarten dieses Staates nicht. Den man eigentlich als “Staatsgebilde” bezeichnen müsste, als Proto-Staat. Die Ukraine hat nach wie vor keine vollwertige, eigene Staatlichkeit, keine zweifellos eigenen Traditionen und Geschichte, ganz egal, wie die ganzen neueren Haus- und Hofhistoriker sich öffentlich über Entdeckungen angeblicher “antiker ukrainischer Volkskunst” begeistern mögen. Fakt ist, dass “uralte ukrainische Traditionen” nach wie vor erfunden und gewaltsam eingepflanzt werden, um damit Identität zu schaffen. Es ist trotzdem nicht abzusehen, ob es jemals zur Findung einer solchen genuinen Staatlichkeit und Identität kommt, aber aus diesem Grunde steht für Janukowitsch im Moment die Wahl: entweder gewaltsames Handeln oder die Einheit des Landes. Er hat sich offenbar entschieden.

Sergej Kaiser schrieb über die Oppositionellen: “…niemand von Ihnen ist so schlimm wie Janukowitch.” (sic)

Oppositionelle Müllberge, ul. Gruschewskogo, Kiew. Foto: Ilya Varlamov

Jetzt aber schon. Denn was die Taktik angeht, so hat Janukowitsch seine oppositionellen Gegenspieler erfolgreich und öffentlich in den von ihnen selbst fabrizierten Dreck gezogen, ohne, dass es dabei seines Eingreifens bedurfte. Als Gegner sind sie ihm nicht wirklich gefährlich, und bei den kommenden Wahlen wird nun jedermann vor Augen haben, dass sie nichts anderes sind als Bastarde und Dreckspatzen. Er bleibt deutlich erkennbar das geringere Übel, die Einheit des Landes ist gewahrt. Dass dafür der Berkut, die Straßen von Kiew und die Menschen, die hier und in den regionalen Verwaltungen von den Banditen “auf die Fresse” bekamen, bezahlen müssen, ist eben so – in der Politik gibt es keine Gerechtigkeit.