Al-Qamishli, von wo Anastasia Popowa und das Vesti-Team am Sonntag berichtet haben, liegt rund 100 Kilometer östlich des türkischen Grenzorts Ceylanpınar bzw. des syrischen Orts Ras Al Ain, von wo vorgestern und gestern Angriffe der syrischen Luftwaffe mit 2-3 Verletzten auf türkischer Seite gemeldet wurden. Im Bericht wird gesagt, dass dort offenbar tags vor diesen Zwischenfällen “ein ganzes Regiment” FSA-Kämpfer von den Kurden beim Versuch eines Grenzübertritts zurückgedrängt wurde. In Ras Al Ain müssten demnach die Kurden die Kontrolle haben, wie im gesamten Bereich von dort aus nach Osten. Theoretisch könnten die Kurden auch die Luftunterstützung bei der Abwehr der FSA angefordert haben. Wenn jedoch, wie in den Meldungen zu lesen war, türkische Ambulanzen verletzte Rebellen auch von syrischem Territorium, also direkt aus Ras Al Ain evakuieren, ist dort die Grenze zumindest löchrig. Dass die Kurden gegen die FSA mauern, ist kein Wunder: diese ist von Anfang dieser Krise an ein türkisches Projekt gewesen.

Wenn Anastasia Popowa aus Al-Qamishli berichten kann, so ist daraus zu schließen, dass die kurdischen Gebiete, wie zuvor nur gerüchteweise zu hören war, tatsächlich überwiegend frei von Rebellenbanden sind.

Quelle: Vesti.ru

In der kurdischen Stadt Al-Qamishli ist der Grenzübergang seit langem geschlossen, doch wenn man sich von dort nur ein paar hundert Meter wegbewegt, sieht die Grenze bereits so aus. Bei aller Durchlässigkeit ist die Stadt jedoch für die Rebellenbanden der Freien Syrischen Armee gesperrt; die örtlichen Einwohner haben die Bewachung der Stadt in ihre eigenen Hände genommen.

Gemäß eines Vertrags von 1998 zwischen Syrien und der Türkei wird die Grenze zwischen beiden Ländern nicht durch die Armeen beider Staaten, sondern nur durch die Streitkräfte der Türkei bewacht. Diese wiederum sind daran beteiligt, dass immer neue Einheiten bewaffneter Rebellen auf syrisches Territorium eindringen. Um sich vor dieser endlos scheinenden Flut zu schützen, haben die Kurden Bürgerwehren aufgebaut. In diesen herrscht eine strenge Organisation, sie haben ihr eigenes Wappen und eigene Uniformen.

Shevan Hussu:

Wir haben Kontrollpunkte eingerichtet, wir haben überall Späher und Informanten, und nachts fahren wir auf Geländewagen Patrouille und achten darauf, dass keine Rebellen über die Grenze kommen. Erst gestern haben wir ein paar Bewaffnete festgenommen und sie ins Gefängnis gesteckt.

Nachts sind entlang der Grenze Schüsse zu hören, die Rebellen versuchen schon den zweiten Tag, in die Halbmillionenstadt Al-Qamishli vorzudringen – bisher erfolglos. 100 Kilometer westlich in Ras Al Ain kam ein ganzes Rebellenregiment aus der Türkei über die Grenze; auch sie wurden von den Kurden abgewehrt. Die Kurden haben auch die Dörfer Al-Darbasiyah und Amuda unter ihre Kontrolle gebracht; man bat die Sicherheitskräfte der syrischen Regierung, die Orte zu verlassen.

Aldar Khamil, Vertreter des Obersten Rats der Kurden:

Wir haben uns mit der syrischen Armee geeinigt. Sie mischt sich nicht in unsere Angelegenheiten ein, sie ist nicht vor Ort, doch auch wenn sie hier wäre hätten wir eigentlich nichts dagegen – das ist ihr Land. Die Terroristen, die zu uns vordringen, kommen nicht von hier. Die, welche wir gesehen haben, waren alle Ausländer. Sie befinden sich permanent unter dem Schutz der türkischen Armee, und wenn sie die Grenze überqueren, bekommen sie dafür Pläne und Unterstützung von den Türken.

Die Beziehungen zwischen den Kurden und der syrischen Regierung waren in den vergangenen 40 Jahren eher schwierig, allerdings sind viele heute noch dankbar dafür, dass Syrien in den 90er Jahren dem kurdischen Nationalhelden und PKK-Führer Abdullah Öcalan Asyl gewährt hat und sich weigerte, ihn an Ankara auszuliefern, was damals fast zum Krieg mit der Türkei führte. Zu Beginn der gegenwärtigen Krise wurde den Kurden durch Präsident Baschar al-Assad die syrische Staatsbürgerschaft verliehen, in der neuen Verfassung des Landes werden sie offiziell als nationale Minderheit anerkannt, mit allen Rechten, ihre eigenen Traditionen zu pflegen.

Ihr Studio nennen sie selbst ein Untergrundstudio, es handelt sich dabei um das Reporterbüro eines europäischen Fernsehkanals, der in kurdischer Sprache sendet. Fünf Personen – das ist die gesamte Redaktion – produzieren eine ganze Reihe an Sendungen. In der Stadt erscheint außerdem eine Wochenzeitung in kurdischer Sprache, ebenso Zeitschriften und Kinderbücher. Die Druckerei befindet sich in einem Privathaus.

Ali Rosh, Verleger:

Wir schreiben die Artikel selbst, drucken und verteilen alles im Alleingang. Die Auflage ist nicht groß: 10.000 Exemplare. Alles, was man dazu braucht, ist ein Computer, ein Drucker und etwas Geld.

In der Stadt gibt es zwei Gewalten: die offizielle und die des Volkes. Beide sind aktiv, mischen sich nicht in die Angelegenheiten der jeweils anderen ein. Die bürgerliche Selbstverwaltung von Al-Qamishli besteht aus 15 Volkshäusern, welche dem zentralen kurdischen Volksparlament unterstehen. Dieses wird für 2 Jahre gewählt, die obligatorische Frauenquote unter den Abgeordneten beträgt dabei 40%. Im Volksgericht werden Urteile durch Ältestenräte unter Berücksichtigung der Sitten und Traditionen des Angeklagten gesprochen. In den Gefängnissen gibt es für Inhaftierte psychologische Betreuung.

Abu Muhammed Yusef, Einwohner von Al-Qamishli:

Schon den sechsten Tag gibt es kein Benzin, wir übernachten hier in der Schlange und können nicht arbeiten. Die Taxis stehen still und niemand kann Auskunft geben, wann Benzin geliefert wird.

Bei allem Wunsch nach politischer Unabhängigkeit hängen die Kurden wirtschaftlich stark von syrischen Staat ab, Kommunikationsleitungen und Strom kommen aus anderen Provinzen, Benzin und Stadtgas aus Homs und Aleppo, aber die Fracht wird unterwegs oft von Rebellenbanden gestohlen.

Kovan Tarsu, Taxifahrer:

Ich bin überzeugt davon, dass die Probleme von der türkischen Regierung ausgehen. Sie will die Kurden eliminieren, überall auf der Welt. Deswegen mischt sie sich jetzt in unser Leben ein. Was auch immer in der Vergangenheit war, wir sind in erster Linie Syrer, dann Kurden. Deshalb werden wir auch unsere Heimat verteidigen.

In Syrien leben zwischen drei und vier Millionen Kurden. Weltweit gibt es verschiedenen Quellen zufolge zwischen 30 und 45 Millionen, das ist das einzige solch große Volk, das keinen eigenen Staat hat. Im syrischen Konflikt betonen die Kurden ihre Neutralität: sie sind weder für, noch gegen die Regierung. Sie streben eine Autonomie für ihr Volk an, betonen aber immer, dass diese Autonomie innerhalb Syriens bestehen soll.

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**Anastasia Popowa, Jewgeni Lebedew, Michail Witkin. Vesti aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet

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