Aggressoren in syrischen Sackgassen

Syrische Soldaten in al-Midan (Damaskus); Foto: Anhar

Für die Aggressoren sieht die Lage symmetrisch aus: der Vorteil der syrischen Armee durch die bessere Bewaffnung und Ausbildung sowie, als wichtigstes, durch die Lufthoheit gestattet es den Rebellenbanden nicht einmal taktische Siege zu erringen. Sie werden eine nach der anderen methodisch aufgerieben. Russland und China gestatten es nicht, den UN-Sicherheitsrat als Deckmantel für eine Potenzierung der Aggression zu gebrauchen. Es gibt sicher auch weitere Faktoren, aber die angeführten genügen, um zu begreifen, dass die Aggressoren gezwungen sind, andere Wege zur Lösung ihrer lebenswichtigen Aufgaben zu suchen. Momentan ist die Antwort auf die taktischen Vorteile und die diplomatische Rückendeckung Syriens nur eine: fanatische Menschenmassen aus ganz Nahost und Nordafrika, die aus den bisher bereits durch den “Arabischen Frühling” desintegrierten Staatsgebilden rekrutiert und gegen Syrien geworfen werden.

Dass die Türkei, oder besser – ihre politische Führung – objektiv an einer Ausweitung der Aggression interessiert ist, wurde mehrfach erwähnt. Damit sind auch die wahhabitischen Golfmonarchien einverstanden. Doch sowohl eine direkte Aggression, zu welcher der Emir des Katar letztens bei der UN-Generalversammlung aufrief, als auch beliebige andere Methoden, den Konflikt auszuweiten, stoßen irgendwann auf die Notwendigkeit der “Bearbeitung” der Iran-Frage. Der Iran hat deutlich zu verstehen gegeben, dass er im Falle einer Aggression gegen Syrien den Aggressor heimsuchen wird. Eigentlich hat er auch gar keine andere Wahl. In diesem Sinne ist eine Eskalation der Aggression gegen Syrien gleichbedeutend mit einem Überfall auf den Iran. Und andersherum – unter Umständen, in denen der Iran vernichtet oder maximal geschwächt ist, haben die Aggressoren eine Chance, auch das “syrische Problem” zu lösen. Weder Russland noch China werden sich direkt in den Konflikt in Syrien – im Sinne einer Präsenz vor Ort – einbringen; und den diplomatischen Gegenwind werden die Türken und die Golfmonarchien schon irgendwie überstehen.

Israelis und Wahhabiten koalieren in der Gunst der Stunde

Das führt zu einer eigenartigen Konstellation: die Türkei, Katar und Saudi-Arabien werden faktisch zu Alliierten Israels in dessen Kriegslust gegen den Iran. Und das nicht nur verbal. Dabei sieht die Türkei in diesem Quartett am erbärmlichsten aus. Sie hat keine einzige strategische Zielstellung für diesen Krieg, sondern es ist nur der Überlebensinstinkt der derzeitigen türkischen Führung, welcher das Land in Richtung Krieg manövriert.

Der Hauptgrund für die derzeitig ausufernde Aggressivität Israels (und das will vor dem beständigen aggressiven Grundrauschen etwas heißen!) scheint die Einzigartigkeit dieser momentanen Konstellation zu sein. Genau aus diesem Grunde erpresst Netanjahu die Amerikaner regelrecht und lügt wie gedruckt über ein “gleich morgen!” der mythischen iranischen Bombe. Was soll er auch anderes tun, wenn man ihm ein solches Potpourri an Quasi-Alliierten in den Schoß legt? Wann kommt es wohl wieder zu einer solch vorteilhaften Lage?

Aber.

Wäre es nur die momentane Konstellation, die ja durchaus temporär ist, würde Israel kaum so vorpreschen. Es gibt noch einen weiteren Grund, der Netanjahu dazu anzutreiben scheint, die Region baldmöglichst in einen Krieg zu stürzen (und naiv zu glauben, dabei die Kontrolle behalten zu können).

Dieser Grund ist der seit einiger Zeit verschwundene König Saudi-Arabiens Abdullah. Um es genauer zu sagen – er fehlt seit dem 27. August, dem Tag, an dem Kronprinz Salman alle Regierungsgeschäfte des Königreichs übernommen hat. Besser gesagt: Abdullah als solcher, oder sein Verschwinden oder gar Ableben, ist natürlich kein Grund, die Region mit Krieg zu überziehen. Er ist nicht das Problem, aber ein Problem ist, dass die Epoche der Herrschergeneration der Saud zu Ende geht.

Exkurs: saudische Interna

Der Hintergrund ist der, dass der Begründer des jetzigen Königreichs Saudi-Arabien, Abd al-Aziz ibn Saud, nicht nur Territorium, sondern auch verschiedenste, teilweise untereinander verfeindete Stämme und Stammesverbände mit Blut und Eisen zusammenschweißen musste. Er selbst repräsentierte die Stammeskonföderation der ´Anizah, die im Nadschd das Sagen hatte. Außer dieser Konföderation mußten noch die Interessen von sechs weiteren Stämmen und Stammesverbänden berücksichtigt werden. Dazu zählten die Schammar aus dem Norden von Nadschd, die Mutayr, die im Nadschd und Hedschas angesiedelt waren, die Qahtan aus Süd-Nadschd, die Adschran, welche noch von den Vorfahren der Jemeniten aus Nadschran verdrängt worden sind, dann des kleinen, aber selbst nach arabischen Maßstäben erbitterten, an raue Lebensbedingungen gewöhnten Stamms Banu Murra und schließlich des Stammesverbands Banu Khalid aus den östlichen Gebieten Arabiens.

Außer den Interessen der einzelnen Stämme war der Wahhabismus Kern und Rückgrat beim Zusammenschweißen der arabischen Halbinsel unter der Regie der Saud. Alle drei ihrer Reiche sind von vornherein und im Kern von der wahhabitischen Ideologie bestimmt (gewesen). Die ansonsten wenig religiösen Beduinen fanden im Monotheismus einen gemeinsamen Nenner und wurden zur wichtigsten Stütze bei der Konfrontation zwischen dem zentralen Nadschd und dem in osmanischer Dekadenz und im “Schisma” versackenden, aber weniger radikalen hanafitischen Islam in Hedschas. Trotz dessen, dass der Eifer und die Kompromisslosigkeit der ultraorthodoxen Ichwan irgendwann damit konfrontiert wurden, dass man, um einer staatlichen Einheit willen, auch andere Versionen und Strömungen des Islam mit einbeziehen muss, ist der Wahhabismus die Staatsideologie geblieben.

Ichwan-Reiterei

Die beiden Absätze hierüber sind sicherlich nur eine grobe Skizze dessen, welchen Herausforderungen sich Abd al-Aziz ibn Saud gegenüber sah. Er brauchte nicht nur die Gefügigkeit der Stämme, sondern auch deren Kooperation. Blut und Eisen einerseits, Verteilung von Gütern, Privilegien, Posten, “dynastische Ehen” andererseits. Und hier haben wir die Besonderheit der saudischen Art Thronfolge: König Abd al-Aziz ibn Saud sah sich gezwungen, die sonst übliche Thronfolge von Vater auf Sohn durch ein komplizierteres System zu ersetzen. Sonst wäre die Staatsmacht recht schnell von einem anderen Stamm usurpiert worden, und das wiederum würde schnell zu einer Störung der Balance führen, die der König mühevoll eingestellt hat.

Eine solche Störung gab es auch bereits einmal in der Historie dieses dritten Saudischen Reiches, als der Sohn des Staatsgründers, Saud ibn Abd al-Aziz – der mütterlicherseits vom Stamm der Qahtan herrührte – in den 1950’er und 1960’er Jahren alle wichtigen Posten im Reich durch seine zahlreichen Sprösslinge besetzte. Nur unter großen Anstrengungen seitens der Brüder Abd al-Aziz’, ausländischer Beratung und der vereinigten Macht der übrigen Stämme und des höchst einflussreichen asch-Schaich-Clans ist es gelungen, die Interessensbalance innerhalb der Familie zu wahren. Diese Jahre führten Saudi-Arabien an den Rand des Zerfalls. Und da waren die Söhne Abd al-Aziz’ noch jung und energisch.

Eine ähnlich kritische Phase beginnt jetzt, diesmal sind die Gründe dafür aber absolut objektiv. Während es innerhalb der ersten Generation der Kinder des Staatsgründers noch gelungen sein mag, eine Balance nach der mütterlichen Linie (Stichwort: Sudairi-Sieben) zu bestimmen, so ist dieses Prinzip in der nächsten Generation nicht mehr anzuwenden, denn mütterliche und väterliche Linien sind hier inzwischen unentwirrbar geworden und die Zahl der potentiellen Thronfolger steigt exponentiell. Das schafft kaum noch ein Taschenrechner. Das bisherige System der Thronfolge kann also definitiv nicht mehr aufrechterhalten werden, es muss ein neuer Konsens her. Dabei ist Kronprinz Salman die allerletzte Chance, einen neuen Weg der Thronfolge auf “regulärem”, das heißt friedlichem Wege zu etablieren. Er ist seit einem halben Jahrhundert Gouverneur der Provinz Riad und einer der Sudairi-Sieben, von denen nur vier noch leben (einer davon im Exil). Charakterlich ist er aber keine Führungspersönlichkeit. Schon allein deshalb kann es gut sein, dass die jüngere, heißblütige Generation nach dem Tod Abdullahs versuchen wird, nach vorn zu preschen. Noch schwieriger wird die Lage, da die drei Gewaltstrukturen – also Armee, Polizei und Geheimdienste – sich in den Händen von jeweils konkurrierenden Gruppierungen befinden. Diese müssen sich miteinander einigen, immer für eine gewisse Zeit. Prinz Bandar bin Sultan – aus der nächstjüngeren Generation und zweifelsohne eine Autorität – war die Schlüsselfigur für die Nachhaltigkeit eines Kompromisses zwischen diesen Strukturen, und ist aber seit geraumer Zeit verschwunden und mutmaßlich umgebracht worden. Wenn er denn wirklich ermordet wurde, so fehlt den drei Gewalten die Autorität, die sie alle zu einen vermag.

Ich bin dein schlimmster Alptraum

Zurück zu den trüben Gedanken Netanjahus. Man kann darüber recht sicher folgendes feststellen. Er ist sicherlich im Detail mit den Konstellationen und der Situation in Saudi-Arabien vertraut. Mit Sicherheit ist er auch über den Gesundheitszustand König Abdullahs informiert, falls dieses überhaupt noch lebt. Und alles zusammengenommen gefällt ihm überhaupt nicht. Es ist ihm offenbar bis zu einem Maße zuwider, dass er bereit ist, in aller Eile Krieg zu führen. Und man kann ihm da auch eine gewisse Logik nicht absprechen: die Aggressoren stampfen in Syrien in der Sackgasse herum und müssen deshalb gerade jetzt all ihre verbliebenen Zähne zusammenbeißen, um aus dem taktischen Loch zu kommen, in das sie in ihrem bisherigen Bemühen konsequent von der syrischen Armee hineingetreten werden. Und wenn ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt eines der wichtigsten Glieder dieser Aggressoren-Kette zerreißt und sich mit inneren, eigenen Problemen beschäftigen muss, dann wird wohl der “Arabische Frühling” (gern auch im Winter) seinen fröhlichen Reigen auf den bisher davon verschonten Weiten der Arabischen Halbinsel fortsetzen. Und auch der Jemen knackt schon an allen Ecken und Enden. Bahrain muckt immer häufiger auf. Und von dort geht der Wanderzirkus vermutlich ohne Zwischenhalt weiter.

Im Endeffekt sieht Netanjahu visionär in der gesamten Nahost-Region den schlimmsten Alptraum Israels wahr werden: ein überlebendes Syrien und den einzigen übriggebliebenen ernstzunehmenden Player in der Region, nämlich den Iran. Und der noch dazu in einer de-facto-Allianz mit dem schiitischen Irak. Wenn der ganze chaotisierte Abschaum des “Arabischen Frühlings” sich durch irgendwessen Fingerzeig endlich auf den “Erbfeind”, Israel, stürzen darf, dann helfen auch keine israelischen Atomwaffen mehr.

Das ist denn wohl auch der Grund, aus dem der überaus friedliebende Netanjahu jetzt deutlich ungeduldiger als früher wie der biblische Ochse drischt und Dampf durch die geröteten Nüstern ausstößt. Es bleibt ihm eigentlich nichts, als die Region in einen Krieg zu stürzen und dabei zu hoffen, dass er die Sache unter Kontrolle halten kann. Naiv, aber eine Wahl hat er nicht, oder jedenfalls bald nicht mehr.

Profit vs. Überleben

Auch die USA sehen sich in dieser Lage mit einem möglichen Fiasko ihrer Nahost-Politik konfrontiert, sowohl der überholten republikanischen, als auch der “modernen” und perfiden der Demokraten. Allerdings gehen sie wohl nicht unberechtigt davon aus, dass ein Angriff auf den heutigen, durchaus noch sehr starken Iran viel zu hohe Risiken birgt. Aber im nächsten Jahr sind im Iran Präsidentschaftswahlen. Bis dahin kann man die Perser noch ein wenig mit Embargos und Sanktionen würgen, man kann ein paar Unzufriedenheiten, Proteste und Aufstände vom Zaun brechen, kurzum – den Iran bis zu einem möglichst kaputten Zustand herunterklopfen, und dann die MOABs aus dem Keller holen.

Für Israel dagegen rinnt die Zeit aus. Die Überlebensfrage ist den Israelis weit wichtiger als der Profit der USA. Und Israel ist durchaus in der Lage, da einfach einen Mechanismus anzuwerfen, indem das Land einfach nur grob und aus der Kalten einen Schlag gegen den Iran versetzt. Und damit die USA zwingt, sich in diesen Konflikt einzubringen. Der türkischen Führung so die Möglichkeit gibt, ihrer fast meuternden Armee etwas zu tun zu geben. Die Aufmerksamkeit der saudischen Prinzen von inneren Problemen auf äußere lenkt. Sie und Emir al-Thani bekommen dann die Rechnung für das Bankett. Und dabei ist Israels Zeitfenster nicht mehr sehr groß – ein paar Wochen, vielleicht Monate. Es kann sicher auch sein, dass diese Wehen wieder abklingen, aber momentan gibt es da keine Anzeichen. Alle warten gespannt auf Nachrichten aus dem saudischen Königshaus.

Quellen & Inspiration: RUnet allgemein, Nahost-Institut Moskau, ANNA-News, EtoruskiyEl-Murid, Expert.ru