Der ägyptische Interimspräsident Adli Mansur hat nicht vor, sich als Kandidat an den kommenden Präsidentschaftswahlen zu beteiligen. Das ist eigentlich nichts Neues – der nimmerlächelnde Mansur hatte das Amt nach zähen Verhandlungen mehr oder weniger widerwillig übernommen.

Man kann ihn natürlich gut verstehen, denn das Schicksal eigentlich aller ägyptischen Präsidenten macht nicht eben Lust auf diesen Posten. Sie werden entweder gleich umgebracht oder über kurz oder lang eingesperrt und zum Tode verurteilt. Der letzte Präsident Ägyptens, dem nicht irgendwie zu seinem Ableben verholfen wurde, war Gamal Abdel Nasser; aber das war damals, in der Blütezeit des Landes. Jetzt haben wir ganz andere Zeiten.

Abgesehen davon kommt Adli Mansur aus richterlichen Kreisen, er ist kein Politiker. Seine Bemerkung, er gedenke nach den Wahlen zu seiner früheren Arbeit am Verfassungsgericht zurückzukehren, sieht nicht nach dem Resultat von äußerem Druck aus – eher wie sein wirklich eigener Wunsch, und womöglich hat er diese Möglichkeit sogar zur Bedingung gemacht, als man ihn zur Interimspräsidentschaft überredete.

Als wahrscheinlichsten und dabei aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten kann man derweil zweifelsohne General Abd al-Fattah as-Sisi betrachten. Man müsste zwar einmal abwarten, wo el-Baradei bleibt, aber als Führungspersönlichkeit der etablierten ägyptischen Nomenklatur sieht as-Sisi so ziemlich unangefochten aus. Einen Militärputsch zu unternehmen und dabei zu wissen, was passiert, wenn der Coup mißlingt, braucht nicht wenig persönlichen Mut. Und da as-Sisi nun also der Anführer ist, kann er seine Qualitäten unter Beweis stellen, indem er Verantwortung für das Land übernimmt. Nicht unwahrscheinlich, dass sämtliche nicht gerade chancenlosen Gegenkandidaten noch vor der Wahl aus dem Weg geräumt werden. Die stärkste Oppositionskraft, die Moslembrüder, ist ohnehin schon halb zerbrochen und ausgeblutet. Es wird niemand mehr Überraschungen zulassen, und damit gibt es eine gute Chance, dass die inzwischen wie eine Epoche scheinende Zeit der Revolution in Ägypten ihr Ende finden wird.

Dabei tritt nun aber die Frage auf: was ist denn überhaupt von 2011 bis 2013 in Ägypten passiert? Warum haben die Generäle die Variante mit dem Putsch nicht schon vor zweieinhalb Jahren durchgezogen und den durch Twitter und Co. wildgewordenen Ochlos mal eben darniedergedrückt, sondern sich erst im Sommer 2013 dazu entschlossen, wo sie dann schon gezwungen waren, das Land in einem weit desolateren Zustand zu übernehmen, als es das noch im Frühjahr 2011 der Fall gewesen wäre? Wenn man bedenkt, dass zwischen einem Drittel und 40% der ägyptischen Wirtschaft in den Händen des Militärs ist, weitere bedeutende Anteile in Händen von Abkömmlingen aus demselben, so müssen die Militärs sich durchaus bewusst zurückgezogen haben. Nur warum?

Annehmen, dass die Generäle bezüglich des Lebens und der Gesundheit ihrer Mitbürger besorgt waren, kann man sicherlich. Und man sollte es auch. Der Paternalismus ist im Orient nicht einfach nur ein abstrakter Begriff. Freilich bringt derselbe es auch mit sich, dass ungehorsame Kinder bei Bedarf auch mal hart bestraft werden. Die algerischen Generäle beispielsweise haben sich in einer ähnlichen Situation befunden und keine Minute lang gezögert, sondern ließen sich auf einen langwierigen und blutigen Bürgerkrieg ein; im Endeffekt muss man aber sagen, dass dies eine vollkommen richtige Entscheidung war. Zwar ist Ägypten nicht Algerien, aber im Grunde ist der Feind der algerischen wie auch der ägyptischen Militärs ein und derselbe. Was war’s denn nun, was also 2011 und 2013 passiert ist?

Ägypten: was seit 2011 passiert ist

Alle Kraft zu den Leuten

Im Jahre 2011 passierte erst einmal eines: Verrat. Die ägyptischen Generäle haben Amerika viel zu lange als ihren Freund und Kumpel betrachtet. Ihr Karma haben sie ohnehin verdorben, als sie sich auf Camp David eingelassen hatten, und jeder durchschnittliche Ägypter gedenkt des damaligen Friedensschlusses mit Israel als einer gesamtnationalen Erniedrigung. Die Jahre gingen ins Land, die akute Phase klang ab, aber ein Bodensatz blieb immer da. Die ägyptische Nomenklatur ging davon aus, dass sie genug für Amerika getan hat, um sich künftig immer, wenn es sein muss, dessen Unterstützung sicher sein zu können. Die demonstrative Unterstützung der ägyptischen “Volksrevolution” von 2011 durch Obama gereichte den Eliten vom Nil zu einem unerwarteten Schlag in die Magengrube.

Genau diese Abkehr der USA von der ägyptischen Staatsmacht wurde für die Militärs zu einem zunächst unverständlichen Faktum, das sie erst einmal abzuschätzen und nicht gleich mittels Kaval- und Artillerie zu bekämpfen vorzogen. Die Auslieferung ihres Rais und der Rückzug von ihren Positionen waren also erst einmal rationale Maßnahmen. Jeder normale Militärangehörige, der auf ein unerwartetes Hindernis trifft, legt sich erst einmal hin und greift zum Feldstecher.

Der Rückzug bedeutete indes keine Flucht, und die Nomenklatur hielt sich fest und sicher an die einstweilen eingenommenen sicheren Stellungen. Der einzige Moment, als eine gewisse “Frontbegradigung” notwendig wurde, war die Einigung mit Mursi über die ehrenvolle Entlassung des Marschalls Mohamed Tantawi. Aber sonst – keinen Zoll weiter.

Die folgenden zwei Jahre sind von ihnen, nach den Ereignissen des Frühjahrs und Sommers 2013 zu urteilen, durchaus sinnvoll genutzt worden. Der “Arabische Frühling” nahm je länger, desto deutlicher die Züge mehrerer parallel laufender Militäroperationen an, die jeweils die regional wiedererstarkten Islamisten, ihren Sponsoren unter den Golfmonarchien und der “Westen” führten. In dieser Lage musste man erst einmal schauen, wer jetzt Freund und wer Feind ist.

USA: strategischer Shift

Spätestens Ende 2012 wurde klar, dass Obama im Nahen Osten mindestens zwei Problemblöcke anzugehen versucht. Der erste davon besteht im Wesentlichen aus dem ureigenen Interesse der USA als in ihrer Macht erschütterter, aber doch immer noch einziger Supermacht, an innerer, insbesondere wirtschaftlicher Stabilität.

Es ist sogar noch vor Obamas erster Amtszeit klar gewesen, dass die weitere Militärpräsenz der USA im Nahen und Mittleren Osten ihre eigenen Ressourcen empfindlich schmälert und im Gegenzug eigentlich nicht entsprechend viel einbringt. Ein Weggang wurde geradezu überlebensnotwendig, so, wie man ein verlustbringendes Projekt aufgibt. Das zu realisieren ist es allerdings ein langer Weg.

Schiefergasvorkommen in den USA. Bild: US Dep’t of Energy, Office of Fossil Energy, National Energy Technology Lab

Unter anderem auch im Rahmen dieser strategischen Aufgabe ist in den USA das massiv vom Staat geförderte Schiefergas-Projekt angelaufen. Zu der ganzen Sache mit dem Schiefergas gibt es eine Menge Für und Wider, aber alle Meinungen laufen zumindest in einer Sache zusammen: die Vereinigten Staaten haben so ein gewisses Maß an Unabhängigkeit vom Import von Energieträgern erreicht. Es ist in diesem strategischen Kontext erst einmal egal, dass die Gewinnung von Schiefergas an sich ein Minusgeschäft sein mag. Dabei ist ja auch der Konkurrenzkampf um den Markt des weltweit größten Energieverbrauchers (was die Energiegewinnung aus Erdöl und Erdgas betrifft) nicht abgesagt; die Sache mit dem Schiefergas gewährt den USA einfach eine zusätzliche und auch verlässliche, weil heimische Sicherheit. So konnte der Abzug aus dem Nahen Osten angegangen werden. Wohin – das ist auch klar. Einen Konkurrenten um den Rang der einzigen Supermacht stellt für die Amerikaner einzig China dar. Und dieses zweite Problem anzugehen ist die unausweichliche Pflicht eines jeden US-amerikanischen Präsidenten, unabhängig von der Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Partei und/oder Elite.

Es ist schlecht möglich, überall gleichzeitig präsent und dabei auch noch stark zu sein. Auch eine Supermacht muss Prioritäten setzen. Und je mehr die Jahre des 21. Jahrhunderts ins Land gehen, desto bedrohlichere Züge nimmt China für die USA an. Keine Bedrohung, mit der man nicht fertig werden könnte – aber dazu braucht es schon einer gewissen Anstrengung, einer Konsolidierung der Ressourcen, die man dazu von überallher zusammenziehen müsste.

China: Drache mit zwei Pferdefüßen

China: Bevölkerungsdichte. Bild: Arab Hafez @ WP

China hat zwei grundlegende Probleme, die es zu bewältigen gilt, ehe es zu einer vollumfänglichen Konkurrenz mit den Vereinigten Staaten von Amerika in der Lage wäre. Das erste davon wäre die demographische, soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen dem Küstengebiet und dem Binnenland. Diese Kluft stellt für China schon immer ein Problem und seine verwundbare Stelle dar. An die Überwindung dieser Kluft macht sich China nun auf ganz chinesische Weise gründlich. Allein im Verlauf der vergangenen zehn Jahre sind 200 Millionen Chinesen von ländlichen Gegenden in die Städte gezogen, noch einmal so viel sollen es im Verlauf der kommenden rund 15 Jahre werden. All diese Menschen muss man mit Arbeit und Wohnraum und generell mit Perspektiven bedenken. Das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, warum ein chinesisches Wirtschaftswachstum nur im einstelligen Prozentbereich ungenügend ist und fast schon Stagnation bedeutet.

In der gegenwärtigen Phase müssten die USA also, ohne die chinesische Wirtschaft direkt zu schädigen, solche Bedingungen schaffen, die das Wirtschaftswachstum bei einer Quasi-Stagnation von 6-8% ansiedeln, womit die chinesischen Bemühungen bei der Überwindung ihrer demographischen Probleme torpediert werden, was diese Bemühungen wiederum in die Länge zieht und die Chinesen dazu zwingt, wertvolle Ressourcen nun nicht für die Weiterentwicklung, sondern lediglich für die Stabilisierung der Lage aufzuwenden.

Eine weitere überlebenswichtige Problemstellung für China ist die Frage nach den eigenen Forschungs- und Entwicklungskompetenzen. Ungeachtet der enormen Wirtschaftskraft bleibt China bislang vom Import von Technologien abhängig – ein Gebrauchtwarenmarkt für Innovationen. Der 18. Parteitag der KPC hat vor einem Jahr einen weiteren wichtigen Akzent in der chinesischen Strategie für das kommende Jahrzehnt gerade auf das Aufbauen einer eigenen Innovationsfähigkeit gesetzt und enorme Summen für dieses Unterfangen abgestellt.

Beide Herausforderungen wollen nach dem Ansinnen der chinesischen Volksstrategen in der ersten Hälfte der 2020’er Jahre gemeistert sein. In der verbleibenden Zeit muss China damit zurandekommen und hätte dann im Endeffekt in so gut wie allen Bereichen mit den USA gleichgezogen. In diesem Augenblick ist’s mit der Hegemonie der USA vorbei – es käme wieder zu einer bipolaren Weltordnung, in welche die USA, ganz im Unterschied zur Zeit nach dem 2. Weltkrieg, nicht mehr im Zustand des Aufschwungs, sondern bestenfalls noch des eigenen Zenits eintreten.

Jeder beliebige US-Präsident, ob “Demokrat” oder “Republikaner”, muss angesichts dieser Tatsachen alles daran setzen, China in jederlei Hinsicht auszubremsen. Und das ist auch der primäre Grund des “Abzugs” der Amerikaner aus allen Regionen, die ihnen noch vor Kurzem so wichtig waren, freilich nicht ohne dafür zu sorgen, dass die Chinesen das von den Amerikanern hinterlassene Vakuum nicht einfach ausfüllen können. Alle Ressourcen und Bemühungen der USA sind fortan darauf ausgerichtet, China einzudämmen, oder noch besser, gleich die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Meistern der Herausforderungen zu torpedieren. Ein Frontalkrieg wäre dabei natürlich keine Lösung. Es bleiben aber viele indirekte, asymmetrische Varianten – wie die vergangenen Jahre anschaulich demonstriert haben.

(Fortsetzung)