Frisch auf den Tisch. Im aktuellen Wochenrückblick gibt es eigentlich nur zwei Themenbereiche: Syrien / Türkei und Putins Mission nach Kirgisistan und Tadschikistan in Zentralasien. Der Autor und Redakteur der Serie ist derweil in die Türkei aufgebrochen und meint, demnächst vom Ort des vermutlichen Geschehens (welches, so hofft man doch, nicht wirklich wahr wird) zu berichten.

Wenn der Beschuss, der aus Syrien kam, wirklich eine Provokation gewesen ist, dann müsste Erdoğan, den Regeln der Kunst nach, die Lage weiter und weiter anheizen. Also massenweise Militärtechnik an die Grenze verlagern, Aufklärungsflüge an der Grenze entlang unternehmen, rekognoszieren. Krieg ist ja kein Spaß, das türkische Militär wird ja wohl schwerlich einfach eine Parade Richtung Süden veranstalten wollen; deshalb sind solche elementaren Dinge notwendig. Politiker müssten längst dabei sein, sich mit Ultimaten und Drohungen zu überbieten, die Militärs über ihre unbändige Kraft fachsimpeln und so weiter. Aber derlei Anzeichen gibt es nicht – zumindest wird davon nichts berichtet. Stattdessen kommen ab und an wieder Geschosse in türkischen Gemüsefeldern an, als wollte man alle glauben machen, die syrische Armee sei vollkommen dämlich und spielt “fang mich doch”.

Anstelle von Ultimaten stammelt Erdoğan etwas davon, dass er kein “war-lover” sei, aber wenn es sein muss, dann haut er dermaßen zu… anders gesagt, haltet den rasenden Uhland. Ein bißchen unverständlich. Wenn du ausholst, dann schlage zu. Oder tu wenigstens so, als wolltest du dich nur am Hinterkopf kratzen. Jedenfalls ist der “Drive” aus dieser Sache auch bald raus. Und ein wenig wird das symptomatisch, denn es potenziert die Probleme für Erdoğan.

Etwas passt jedenfalls nicht. Entweder haben die Puppenspieler damit gerechnet, dass die Syrer das “Gegenfeuer” der Türken erwidern, diese erwidern wiederum die Erwiderung, etc., oder die Sache war einfach ein unerwartetes Geschenk, aber bisher scheinen weder die Türkei, noch die NATO so richtig zu wissen, was sie mit diesem Geschenk anfangen sollen.

Allerdings kommen inzwischen Meldungen, dass die Türken bestimmte Grenzorte, darunter Akçakale, evakuieren…

In der vergangenen Woche geriet Syrien wieder an die Schwelle zu einem vollumfänglichen Krieg mit unvorhersehbaren Folgen.

Am Mittwoch, dem 3. Oktober, wurde von syrischem Territorium aus der türkische Ort Akçakale beschossen. Durch die Explosion von Artilleriegeschossen in einem Wohngebiet sind 5 Menschen getötet und 11 weitere verletzt worden. Die türkische Armee hat, ohne zu zögern, sogleich Stellungen der syrischen Armee in Tal Abyad unter Feuer genommen. Danach begannen sich die Ereignisse zu überschlagen. Das türkische Parlament hat in einer Sondersitzung der Armee die Legitimation erteilt, Militäroperationen auf syrischem Territorium durchzuführen, das heißt, den Weg für eine direkte Intervention geebnet. Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan hat versucht, die Unterstützung der Weltöffentlichkeit zu bekommen, erreichte aber nichts, was über gewöhnliche Statements und Verurteilungen hinausginge. Syrien hat seinerseits den Familien der Opfer sein Beileid ausgedrückt, allerdings kein Verschulden eingestanden, sondern stattdessen eine genaue Untersuchung der Vorfälle angekündigt.

Zu untersuchen gäbe es hier einiges, denn es ist bislang unbekannt, wer genau das türkische Territorium beschossen hat. Dafür ist bekannt, dass das Gebiet, von wo aus geschossen wurde, seit längerer Zeit von syrischen Rebellenbanden besetzt ist. Hier im Grenzgebiet konzentrieren sie sich, um von hier aus syrische Ortschaften anzugreifen. Es ist bekannt, dass die Türkei die Rebellen unterstützt, ihnen Medikamente liefert, und im Falle dessen, dass sie von der syrischen Armee verfolgt werden, werden sie auf türkisches Gebiet vorgelassen und dort beherbergt. Bekannt ist weiterhin, dass die Lage der Rebellen in der letzten Zeit eher schlecht ist. Viele von ihnen sind vom Westen und der Türkei enttäuscht, da diese sich nicht zu einer direkten Intervention in Syrien entschließen können.

Die “New York Times” gibt die Aussage eines Rebellenkommandeurs namens Madschid al-Muhammad folgendermaßen wieder: “Wir haben ein kritisches Stadium erreicht. Wir haben es nicht nur mit Syrien, sondern auch mit dem Iran, dem Irak, Russland und China zu tun. Und außer Provokationen und leeren Versprechungen der USA haben wir nichts zu unserer Unterstützung.”

Es wäre also logisch, wenn man davon ausgeht, dass es die syrischen Rebellen waren, welche das Territorium der Türkei unter Beschuss genommen haben, um damit die Türkei und die internationale Gemeinschaft zum Beginn eines militärischen Vorgehens gegen Assad zu provozieren. Interessant ist, dass der deutsche Fernsehsender ZDF davon berichtete, dass die syrischen Rebellen die Verantwortung für diese Provokation übernommen hätten. Doch diese Meldung ging im Lärm der Beschuldigungen unter, welche man der syrischen Führung vorhielt. Mehr noch, das algerische Internetportal Algeria-ISP benannte die für den Beschuss verantwortlichen noch konkreter – als die Faruk-Brigade. Wir haben versucht herauszubekommen, was das für eine Brigade ist und stießen dabei auf eine interessante französische Reportage über dieser Rebellen. Die westlichen Reporter sind von dieser Gruppe Salafiten ganz aus dem Häuschen. Sie ist für eine Vielzahl von Anschlägen und Überfällen auf Regierungstruppen verantwortlich. In dieser Videoreportage beschwert sich einer der Salafiten des Bataillons über mangelnde Unterstützung aus dem Westen:

Es gibt niemanden, der diese jungen Männer unterstützen würde. Weshalb? Weil wir so religiös aussehen?

Aber hier schwindelt er. Die französischen Journalisten demonstrieren an gleicher Stelle die Waffen der Faruk-Brigade und ihr Geld.

Die Raketen und Gewehre wurden auf dem Schwarzmarkt erworben, für Geld aus befreundeten Staaten und islamistischen Gruppierungen der Region.

Ungeachtet dessen, dass das türkische Parlament einen Militäreinsatz in Syrien gebilligt hat, erklärte Erdoğan  dass er noch nicht vorhat, einen Krieg zu entfesseln:

Wir sind keine Freunde des Krieges, aber wir sind nicht weit davon entfernt. Man sagt: wenn du Frieden willst, rüste dich zum Krieg. Auf dieser Weise wird der Krieg Schlüssel zum Frieden.

Das hat natürlich weniger mit der Friedfertigkeit Erdoğans zu tun, als vielmehr damit, dass er die Folgen eines solchen Kriegs recht gut begreift. Insgesamt erinnert die Sache mit dem Beschuss des türkischen Territoriums ein wenig an den Abschuss des türkischen Jagdflugzeugs unweit der syrischen Küste. Auch dieses Ereignis damals wäre ein wunderbarer Casus belli gewesen, doch man hat die Sache im Sande verlaufen lassen. Man muss hierbei bedenken, dass Erdoğan bei Entscheidungen einer solchen Tragweite keine freie Hand hat. Erstens bereitet die Aussicht auf einen Krieg mit Syrien vielen türkischen Landsleuten Unbehagen.

Das bezeugen die Protestkundgebungen nach der Entscheidung des Parlaments, die von der Polizei unter Anwendung von Tränengas unterbunden wurden. Niemand ist so dumm, um nicht zu verstehen, was ein Krieg für die Menschen in der Region für Folgen haben wird.

Andererseits würde eine Aggression der Türken eine Kampfansage an solche Mächte wie Russland und China bedeuten, deren Führungen recht gute Beziehungen zu Erdoğan pflegen und deren Wirtschaften eng mit der türkischen verbunden sind. Aus diesem Grunde besuchte direkt nach dem Beschuss auch eine iranische Delegation die Türkei, und für den 15. Oktober ist ein Besuch von Wladimir Putin anberaumt. Die Gespräche zwischen Putin und Erdoğan werden allem Anschein nach die Richtung der weiteren Entwicklung der Situation bestimmen. Davon berichten wir in künftigen Folgen.

Vielsagend, dass schon am Samstag, dem 6. Oktober, erneut eine Meldung über Granatwerferbeschuss türkischen Territoriums von Syrien aus hereinkam. Der neuerliche Vorfall passierte in der Provinz Hatay und ging glücklicherweise ohne Opfer und Zerstörungen aus. Die Türkei eröffnete wiederum Gegenfeuer, ohne sich darum zu kümmern, wer überhaupt von wo genau geschossen hatte.

Es stellt sich die Frage: wenn die Provokation noch zu keinem Beginn einer Intervention geführt hat, weshalb fand sie dann statt? Es scheint recht simpel. Erstens hat die Entscheidung des türkischen Parlaments die rechtliche Grundlage dafür gegeben, eine solche Intervention vorzunehmen; zweitens hat sich der durchschnittliche Medienkonsument wieder einmal davon überzeugen können, was Baschar al-Assad für ein “Monster” ist; drittens, Erdoğan hält nun einen Trumpf für Verhandlungen mit Russland und dem Iran in der Hand.

Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Sachverhalt: am Tag nach dem Beschuss verlautete aus Syrien, dass innerhalb eines 10-Kilometer-Gürtels vor der türkischen Grenze keine syrischen Militärflugzeuge mehr operieren werden und auch die Artillerie aus diesem Bereich abgezogen wird. Die Türken ihrerseits erklärten, dass sie jedes Flugobjekt innerhalb genau dieser Zone abschießen werden.

Was heißt das in der Praxis? Das bedeutet, dass die zahlreichen Rebellenbanden sich ab sofort in dieser Zone praktisch sicher fühlen können. Sie müssen nun nicht mehr über die Grenze fliehen, sobald ihnen ein syrischer Armeeeinsatz an den Kragen zu gehen droht. Letztlich ist es das, was die Türkei und der Westen schon seit geraumer Zeit erreichen wollten, als es darum ging, Pufferzonen auf syrischem Territorium zu bilden. In dieser Sache hat man Assad also auf seinem eigenen Gebiet ausgespielt, und zwar mithilfe einer banalen Provokation. Das wird die Positionen der Rebellenbanden in Syrien nachhaltig festigen. Das scheint dann wohl die Antwort auf die Frage nach dem “Warum” dieses Zwischenfalls zu sein.

Wir werden uns dieser Tage selbst vor Ort in die Türkei begeben und euch von dort berichten, was vor sich geht.

Wichtiges ging in der vergangenen Woche auch in Zentralasien vor sich. Hier scheint der Wettbewerb um Einfluss auf die dortigen Länder zwischen Russland und der USA in die finale Phase übergegangen zu sein. Warum das so wichtig ist, hatten wir bereits in vergangenen Folgen besprochen. Bekämen die USA ein Sprungbrett in Zentralasien, so hätten sie beste Möglichkeiten bei der Einflussnahme auf eine Region gewaltigen Ausmaßes, Beobachtungsposten direkt vor den Nasen Russlands und Chinas, und darüber hinaus die Möglichkeit, den von Afghanistan ausgehenden Drogen- und Waffenschmuggel und die Bewegungen radikaler Islamisten zu koordinieren. Mit Billigung und Unterstützung der regionalen Eliten bekämen sie die Gelegenheit, das Projekt “Große Seidenstraße” in die Tat umzusetzen, das die Ressourcen Zentralasiens unter Umgehung Russlands nach Europa leiten soll.

Alle vergangenen Versuche russischer Diplomaten, sich mit den zentralasiatischen Republiken über eine engere Zusammenarbeit zu einigen, sind fehlgeschlagen. Mehr noch, diese driften immer deutlicher in Richtung der USA. Usbekistan hat seine Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) auf Eis gelegt. Kirgisistan und Tadschikistan haben versucht, die auf ihrem Territorium befindlichen russischen Militärbasen loszuwerden. Allein mit Kasachstan gelang es den Russen, stabile Beziehungen aufrecht zu erhalten.

Die Situation wird aber langsam ernst. Es naht das Datum des endgültigen US-Truppenabzugs aus Afghanistan, und diese Truppen sollen sich in Zentralasien festigen. Danach wäre Russland aus diesen postsowjetischen Republiken faktisch verdrängt. Es sieht so aus, dass Putin aus diesem Grund persönlich in der Region vorbeischaut.

Nach seiner Visite nach Kirgisistan waren plötzlich alle Fragen geklärt. Die russischen Militärobjekte bleiben noch viele Jahre auf dem Territorium der Republik, Russland und Kirgisien beschlossen gemeinsame Projekte im Bereich Wasserkraft. Zwar gab es gleich nach diesen Absprachen wie auf Bestellung den Versuch eines Staatsstreichs. Doch das hat sicherlich nichts mit der Tätigkeit der US-amerikanischen Organisation USAID auf dem Gebiet der Republik zu tun.

Direkt danach flog Putin nach Tadschikistan, wo ähnliche Fragen mit Emomalii Rahmon besprochen wurden. Die 201. russische Militärbasis bleibt weitere 30 Jahre in Tadschikistan, was für Russland von prinzipieller Bedeutung ist.

Mit Usbekistan dagegen sieht es weit komplizierter aus. Es befindet sich schon so sehr im Orbit des US-amerikanischen Einflusses, dass es wohl kaum noch möglich sein wird, ihn mit rein diplomatischen Mitteln zu verlassen. Die USA investieren Milliarden in die usbekische Wirtschaft, rüsten die dortige Armee um und bandeln mit den usbekischen Eliten an.

Die Kräfteverteilung in der Region wird, wenn die gegenwärtigen Tendenzen so weiterlaufen, unvermeidlich zu militärischen Auseinandersetzungen führen. Das ist auch allen klar, und jeder versucht, sich darauf vorzubereiten, auch wenn niemand laut davon spricht. Angesichts der Eile, mit der Putin nach Zentralasien aufgebrochen ist, reden wir hier nicht von einer allzu fernen Zukunft.

Dass Usbekistan in feindseliger Umgebung, aber mit der Unterstützung der USA im Rücken Russland Unbill bereiten wird, ist klar wie Kloßbrühe. Durch die Wasserenergieprojekte in Kirgisien und Tadschikistan stößt Russland die Usbeken allerdings selbst in Richtung Aggression. Wenn diese Projekte wahr werden, so befände sich Usbekistan in direkter wirtschaftlicher Abhängigkeit von seinen nicht allzu freundlich gesinnten Nachbarn. Ohne Wasser und Strom geht es aber nun einmal nicht, so dass die Lage nach Konflikt aussieht. Andererseits kann Russland es nicht zulassen, dass die USA sich weiter in dieser strategisch wichtigen Region befestigen. Von daher werden eben alle möglichen Druckmittel angewandt.

Mit dem endgültigen Truppenabzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Land in ein noch größeres Chaos verfällt, als es jetzt schon der Fall ist. Das wird unvermeidlich nicht nur in ganz Zentralasien, sondern auch in den südlichen Regionen Russlands zu spüren sein. Man kann nur hoffen, dass die russische Führung die verbleibende Zeit für entsprechende Vorkehrungen nutzt.