Hier folgt der dritte und letzte Teil des “Faktor Erdgas” – angesichts der jüngsten Ereignisse wirkt er streckenweise ziemlich anachronistisch (er wurde noch vor dem Sturz Janukowitschs verfasst), kann aber recht gut dazu dienen, ein paar Hintergründe zu erhellen.

Links zu den vorangegangenen Teilen:

Der Aufruhr

Die plötzliche Eskalation der Lage Ende 2013 und Anfang 2014 folgte offenbar sowohl aus subjektiven, als auch aus objektiven Faktoren.

Kiew Ende Januar 2014. Bild: Ilya Varlamov

Zu den subjektiven kann man den Anlass rechnen, auf den unmittelbar der Protest einer nicht allzu großen, aber sehr medienwirksamen Menschenmenge auf dem Maidan folgte: die Nichtunterzeichnung des EU-Assoziationsabkommens durch die ukrainische Regierung. Für sich genommen ist der Grund für den Verzicht auf die Unterzeichnung (genaugenommen handelte es sich um einen Aufschub) durchaus vernünftig: die Bedingungen, zu denen die Ukraine in ein Assoziationsverhältnis mit der EU hätte eintreten sollen, waren in keiner Weise partnerschaftlich, vielmehr handelte es sich um ein Verhältnis zwischen Lehnsherr und Knecht; dabei sollten die Aufwendungen für die Maßnahmen, die es zur Erfüllung der Assoziationsbedingungen durchzuführen galt, durch den ukrainischen Staatshaushalt geschultert werden. Die ukrainische Führung bezifferte diese Aufwendungen mit 160 Milliarden US-Dollar. Gut möglich, dass diese Zahl aufgrund irgendwelcher politischen Überlegungen überhöht wurde, aber klar war dennoch, dass die Aufwendungen enorm sein würden.

Dabei geriet die Ukraine in die Falle der angepflanzten Russophobie: es erscheint unsinnig, die Gewinne und Verluste des Landes bei Anschluss an das eine oder andere der konkurrierenden Projekte – also die EU oder die Zollunion – in ihrem Verhältnis zu diskutieren. Die ukrainische Elite war deshalb gehalten, mit nur einer dieser Integrationsvarianten zu arbeiten und verschloss sich selbst so gegen jede Möglichkeit eines Lavierens dazwischen.

Russland hat in der durch die EU angebotene Variante der EU-Assoziation der Ukraine vollkommen begründet eine Bedrohung seiner wirtschaftlichen Interessen erkannt und die Ukraine vor den Folgen gewarnt – die eine zusätzliche Bürde für die ukrainische Wirtschaft darstellen würden. Unter solchen Bedingungen war es das vernünftigste, die Entscheidung über die eine oder andere Richtung einer Assoziation aufzuschieben und erst einmal eine Auszeit zu nehmen.

Zweifelsohne lastet die Verantwortung für die ganzen recht inkonsequenten Manöver auf der jetzigen Führung der Ukraine [Anm.: Mitte Februar 2014 - apxwn], allerdings geht es dabei im Grunde um die “Geburtstraumata” des ukrainischen Unabhängigkeitsprojekts. Das Problem der Ukraine besteht darin, dass bei solch gravierenden Unterschieden der Regionen untereinander (auch, was deren wirtschaftliche Entwicklung angeht) auch die Vorteile und Lasten jeglicher Integrationsprojekte ebenso ungleich unter ihnen verteilt werden würden, womit die Ungleichheit nur noch weiter vorangetrieben wäre.

Einfacher ausgedrückt: das, was für die Westukraine ein Vorteil gewesen sein könnte, hätte möglicherweise schwerste Nachwirkungen in anderen Regionen des Landes und umgekehrt. In einer Position, von der aus kein Manövrieren mehr möglich war, befand sich die ukrainische Führung von vornherein in schlechter Verhandlungsposition zum Thema Assoziation oder Integration, was sich schließlich in dem ungerechten Assoziationsabkommen niederschlug.

Letztendlich passierte, was passiert ist: nach Abwägung aller Risiken schob die ukrainische Führung ihre Entscheidung zur Unterzeichnung des Assoziationsabkommens auf. Und genau das wurde zum Anlass der jetzigen Unruhen.

Die Gründe, aus denen die ukrainische Opposition und der Westen sich dazu entschlossen, auf einem mehr oder weniger alltäglichen Protest gegen eine zwar folgenreiche, aber doch erst einmal funktionierende Entscheidung der Regierung aufzusatteln, sehen freilich weit ernsthafter aus. Das absehbare Ende des Kriegs in Syrien (oder zumindest dessen Übergang in eine zäh dahinfließende Phase) weist darauf hin, dass die Ziele des Kriegs durch den Westen nicht erreicht worden sind. Der Versuch, diesen höchst wichtigen Kreuzungspunkt von Transitlinien in Nahost unter Kontrolle zu bekommen, schlug fehl. Die Rolle dieses Hubs ist für den künftigen globalen Erdgasmarkt aber von enormer Bedeutung – auf dem Territorium Syriens überkreuzen sich gleich drei große Erdgasprojekte – die AGP, die Iran-Irak-Pipeline und die hypothetische Pipeline aus Katar. Derjenige, welcher auf syrischem Boden das Sagen hat, bekommt damit enormen Einfluß auf die Heranbildung der Strukturen des Erdgastransports in Richtung Europa. Außerdem wird der Nahe Osten selbst zu einem großen Verbraucher von Erdgas – in lediglich einem knappen Jahrzehnt vom Jahr 2000 bis 2009 ist der Verbrauch in der Region von 186,7 auf 345,6 Milliarden Kubikmeter gestiegen; der gesamte Markt Nahost brachte es zu Beginn des Jahres 2010 auf fast 12% des weltweiten Marktes für Erdgas. Was diese Entwicklungsdynamik angeht, so ist lediglich das Wachstum des Marktes im Asiatisch-Pazifischen Raum größer:

Erdgasverbrauch nach Region

Wie dem auch sei, in der jetzigen Etappe ist der Kampf um Syrien vorerst mit einem Unentschieden ausgegangen. Die derzeit im schweizer Montreux stattfindenden Gespräche zur Beilegung der Syrienkrise sehen einzig wie ein Versuch aus, dieses Zwischenresultat festzuschreiben und es ist eigentlich vollkommen offensichtlich, dass der mögliche Frieden lediglich ein Waffenstillstand vor einer neuen Eskalation sein würde.

Wahrscheinlicher ist, dass die Verhandlungen einen solchen Waffenstillstand darstellen werden, der mit ihrem Scheitern wieder beendet sein wird. Der stellvertretende russische Außenminister Gennadij Gatilow sagte in einem RIAN-Interview am 4. Februar 2014: “Die Konferenz kann Jahre dauern… Man muss dabei das Ziel verfolgen, zu einem Resultat zu kommen, das für die Konfliktparteien akzeptabel wäre”. Diese Herangehensweise, die an sich sehr vernünftig und begründet aussieht, kann durchaus dazu führen, dass die Verhandlungen lediglich für eine relativ friedliche Atempause genutzt werden, wonach es zu einer neuen Eskalation des Konflikts kommt.

Erdgasversorgungswege aus Nahost nach Europa. Gestrichelte Linien sind Projekte. Rosa gekennzeichnet die wichtigsten Schauplätze von Kampfhandlungen in Syrien. Quelle: kommersant.ru

Die “Crux” mit Syrien ist bislang nicht entschieden. Der Konkurrenzkampf zwischen den beiden wichtigsten Projekten – dem des Katar und dem des Iran – ist bislang nicht entschieden. Das bedeutet für den Moment nur, dass es weiter geht. Wie und wann genau, wird später entschieden werden.

Es ist unter diesen Umständen aus Sicht der Vereinigten Staaten und “des Westens” durchaus richtig, der Ukraine als einem weiteren, sehr wichtigen Transitland des künftigen Marktes für Erdgas, nun besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die “farbigen Revolutionen”, die bereits seit anderthalb Jahrzehnten in besonders bedeutenden Regionen und Ländern dazu eingesetzt werden, die Interessen des Westens durchzusetzen, setzen in der Regel zum Zeitpunkt eines wichtigen gesellschaftlichen Ereignisses ein, von dem ausgehend die “Revolution” gestartet wird. Üblicherweise handelt es sich bei dem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis um Wahlen, aber auch die von der ukrainischen Opposition in Kiew organisierten Massenproteste gegen den Verzicht der EU-Assoziierung eigneten sich sehr gut als Initialereignis.

Der “Maidan” Ende 2013 – Anfang 2014 war aus rein technologischer Sicht eine klassische “farbige Revolution”, die all die vorangegangenen Inkarnationen recht schablonenhaft wiederholte – inklusive der dabei standardmäßigen Ermordung von Aktivisten. Diese Schablonenhaftigkeit hatte es auch zur Folge, dass die “Revolution” eine Zeitlang recht träge vor sich hin lief – die ukrainische Gegenpropaganda konnte sich auf vorangegangene Erfahrungen stützen und die Propaganda-Attacken recht erfolgreich kontern, indem sie deren Art, Ausrichtung und Intensität voraussah. Auf der anderen Seite wurden auch von den Technologen hinter dieser “Revolution” Schlüsse aus früheren Erfahrungen gezogen. Sie steigerte sich praktisch vom Stand weg und ohne großes Federlesen in eine äußerst harte Gangart, die an die Ereignisse in Syrien gemahnte, nur dass die Lage sich in der Ukraine weit dynamischer entwickelte. Es passierte sehr schnell, dass der Großteil der extremistischen und nationalistischen Gruppierungen in der Ukraine zum “Rechten Sektor” zusammengefasst wurden, welcher sofort zur Gewalt gegen Sicherheitskräfte überging und an die Erstürmung von Verwaltungsgebäuden und staatliche Einrichtungen ging.

“Folge dem weißen Kaninchen”. Shells Schiefergas-Revier “Jusowskij” aus einem Prospekt von 2012. Im Zentrum des gelb gekennzeichneten Gebiets: Slawjansk.

Die ukrainische Führung hatte sich unter Berücksichtigung früherer Gegenmaßnahmen davon enthalten, die Gewalttaten der “Stoßtruppen” dieser “Revolution” entschieden und hart zu kontern, sondern verlegte sich auf eine zähe Taktik, die vor allem eines zum Ziel hatte: den “Revolutionären” das Image von Randalierern und Extremisten zu verleihen. Man muss zugestehen, dass dies zu weiten Teilen gelungen ist – ganz ungeachtet dessen, dass die ukrainische Führung unter Janukowitsch höchst unpopulär war, spielte der Kontrast mit dem auf den Straßen von Kiew randalierenden, zügellosen und gewalttätigen Mob der Regierung ganz offensichtlich in die Hände. Das In-die-Länge-Ziehen der Konfrontation führte auch dazu, dass die Bevölkerung zur Selbstorganisation überging und Freiwilligenverbände organisierte, die den Sicherheitskräften Unterstützung beim Widerstand gegen die Banden der “Revolution” leisteten.

Zu einem gewissen Umbruch kam es Ende Januar 2014, als die ukrainische Polizei in Zusammenarbeit mit Freiwilligenverbänden verhindern konnte, dass eine Reihe an staatlichen Verwaltungsgebäuden im Osten und Süden der Ukraine von mobilen Gruppen des “Euromaidan” besetzt wurden, wonach es noch dazu gelang, eine Zahl an vorher besetzten Institutionen wieder zu befreien. Der Konflikt, der eher wie ein Aufstand aussah, war auf relativ kleine Flächen lokalisiert.

Die legale Opposition scheiterte von Anbeginn an daran, die gewalttätigen Gruppen zu kontrollieren oder gar zu steuern, und die Lage gemahnte auch in dieser Hinsicht an ein “syrisches” Szenario, in dem die der legitimen Regierung zuwiderstehenden Rebellen und die formale Opposition vollkommen unterschiedliche Ziele verfolgten, wohinzu noch kommt, dass weder die einen, noch die anderen diese Ziele in halbwegs konstruktive Formulierungen, geschweige denn in die Form eines konstruktiven Programms bringen konnten.

Das Vorgehen der ukrainischen Staatsführung konnte man unter den gegebenen Umständen als insgesamt sehr geschickt bezeichnen. Zu dem Zeitpunkt, als dieser Text verfasst wurde [Anfang Februar 2014 - apxwn] besteht äußerlich weiterhin eine Patt-Situation, jedoch hat Präsident Janukowitsch einen deutlichen Vorteil: die Gewaltstrukturen verbleiben weiterhin unter seiner Kontrolle, es gibt so gut wie keine Überläufer aus den staatlichen Strukturen, die Opposition ist demoralisiert und ihre Positionen sind hinsichtlich von eventuell vorgezogenen Wahlen bestenfalls als zweifelhaft zu bezeichnen.

Unter Berücksichtigung all dessen kommt es vollkommen vorhersehbar zur Erhöhung des internationalen Drucks auf die ukrainische Staatsmacht, aber selbst dieser Druck sieht recht nebulös aus, was dessen Folgen betrifft. Das Übliche, was man in solchen Fällen hervorholt, sind großangelegte Menschenrechtsverletzungen. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es für eine solche Anschuldigung keinerlei Grundlage. Das Vorgehen der marodierenden Banden sieht weit gefährlicher und extremistischer aus als die Reaktionen der Staatsgewalt darauf. Die Provokationen, die von den Banden und von der Opposition durchgeführt werden, machen einen eilig zusammengeschusterten Eindruck – kaum durchdacht und miserabel durchgeführt. Der Fall mit dem angeblich entführten Anführer der “Kavallerie des “Rechten Sektor” – des “Automaidan”, Dmitrij Bulatow, sieht beispielsweise derart fabriziert aus, dass die Kampfbrigaden ihn schnell außer Landes bringen mussten, um eine offizielle Untersuchung des Falls zu verhindern – hier wäre die getürkte Entführung ansonsten sehr schnell aufgeflogen.

Die einzige Möglichkeit, die den Organisatoren des “Maidan” bleibt, ist natürlich eine Eskalation des Konflikts.  Ein militärischer Aufruhr sieht aber unter den gegebenen Umständen, zumindest ohne massive auswärtige Unterstützung mit Personal als auch mit finanziellen, materiellen und anderen Ressourcen, recht aussichtslos aus. Die relativ träge vor sich hin laufende Propagandakrieg gegen die Ukraine liefert bislang auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass es demnächst zum “harten” Szenario übergeht.

Pro-EU-Demo #euromaidan Ende Januar in Kiew. Bild: Ilya Varlamov

Das schließt natürlich Versuche nicht aus, den Konflikt in eine “heiße” Phase zu überführen, doch der Aufwand, der für eine bewaffnete Konfrontation getrieben werden müsste, sieht vom gegenwärtigen Standpunkt noch immens aus – obwohl es möglich und machbar bleibt. Beispielsweise bleibt die Möglichkeit, die Krim in den Strudel der Kiewer Ereignisse zu reißen – einerseits würde das die Aufmerksamkeit der Polizei- und Sicherheitskräfte von den Vorgängen in Kiew ablenken, andererseits gäbe das Gelegenheit, Russland in die Ereignisse zu verwickeln. Anschläge auf militärische Objekte der Schwarzmeerflotte und eine unweigerliche Antwort der russischen Seeleute darauf könnten problemlos als Aggression gegen einen souveränen Staat gewertet werden. Bedenkt man zusätzlich, dass eine bestimmte Anzahl von Krim-Tataren unter den Terrorbrigaden am Krieg gegen Syrien teilgenommen haben, so kann man davon ausgehen, dass auf der Krim lebende Islamisten bereits einiges an Erfahrung in der Kriegführung gegen reguläre Armeen besitzen; hier könnte es dazu kommen, dass diese Erfahrungen zur Anwendung kommen.

Folgerungen

Es ruft keinerlei Zweifel hervor, dass der Hauptgrund für die Versuche, die legitime Regierung in der Ukraine zu stürzen, in einer “Bestellung” aus dem Ausland zu suchen ist. Das stützt sich auf eine Vielzahl von Faktoren: angefangen von den Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht und die im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise eine großangelegte Erweiterung der Absatzmärkte erfordern, bis hin zu den globalen Aufgaben einer Neugestaltung der Weltordnung, unter denen sich auch eine Herabsetzung der Bedeutung und der Rolle Russlands befinden. Die Ideologen des Westens machen kein Hehl daraus, dass die Ukraine ein Zwischenziel des eigentlichen Angriffs auf Russland ist. Schon während des sich in Kiew entwickelnden Konflikts hat einer dieser Ideologen, Zbigniew Brzezinski, am 10. Dezember 2013 in der “Financial Times” einen Artikel unter der vielsagenden Überschrift “Russland wird, wie die Ukraine, eine echte Demokratie werden” veröffentlicht; darin betrachtet er die Ereignisse in Kiew als den Beginn eines neuen Kampfes des Westens um “Demokratie” in Russland.

Das zwingt Russland nun seinerseits, die Ereignisse in Kiew und in der Ukraine insgesamt als einen Angriff auf seine Interessen zu werten. Die Reaktion Russlands, die sich in der Bereitstellung einer von ihrem Ausmaß her beispiellosen finanziellen Unterstützung des Präsidenten Janukowitsch äußerte, ist – bei allen Mankos dieser eilig getroffenen Entscheidung – taktisch wohl gerechtfertigt, auch wenn bestimmte, daraus folgende Schwierigkeiten in Zukunft absehbar sind.

Das Hauptproblem der Ukraine besteht indes weniger in den versuchten Staatsstreichen, sondern ihre Stabilität gegenüber solchen Versuchen. Ganz offensichtlich geht die Reaktion der ukrainischen Regierung von einer “Verteidigungsdoktrin” aus. Die Initiative zur Durchführung von Handlungen zur Erschütterung der Staatsmacht ist in die Hände von bewaffneten Banden und Kollaborateuren aus der Opposition gegeben worden; auf taktischer Ebene kann das einen Etappensieg bedeuten, allerdings sieht diese “Doktrin” unter strategischem Gesichtspunkt sehr dürftig aus.

Die für die Ukraine kritischen Probleme bleiben bestehen – ein unverständliches “Projekt” hinter ihrer Unabhängigkeit und die fehlenden Parallelen zwischen dem inneren Bau des Landes und der es regierenden Strukturen. Die Zentralregierung muss, indem sie von ihrer Entwicklung, den Traditionen, der Kultur und der Mentalität solch verschiedene Regionen des Landes abdeckt, zwangsläufig deren Interessen zugunsten einer Einheit des Landes zurückstellen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das gegenwärtige Staatsmodell den inneren Bedürfnissen des Landes in keiner Weise mehr entspricht. Die Ukraine muss schleunigst daran gehen, ihre kritischen Probleme zu lösen, ansonsten wird ihre weitere Entwicklung, wie bisher, immer nur von einer Krise zur nächsten gehen, wobei die Intervalle zwischen diesen Krisen sich immer weiter verkürzen werden.

Auf diese Weise haben wir es in der Ukraine mit einer schwachen Staatsmacht zu tun, die im Rahmen der gegebenen Ideologien und Herrschaftsformen unfähig ist, eine Entwicklung des Landes nachhaltig zu steuern. Das macht sie beliebigen äußeren und inneren Anfechtungen gegenüber verwundbar, diese kann sie weder verhindern, noch adäquat darauf reagieren.

Für Russland bedeuten die Ereignisse einen paradox erscheinenden, aber durchaus auch logischen Schluss. Im langfristigen Interesse Russlands liegt die Existenz einer starken, wenn auch möglicherweise nicht freundlich gesinnten Ukraine – was einer schwachen, dabei aber befreundeten und “verbrüderten” vorzuziehen ist. Die Schwäche der Ukraine und ihre Instabilität gegenüber allen möglichen Angriffen schaffen jetzt und künftig immer wieder Probleme in dieser Richtung.

Eine starke Ukraine wird, ganz unabhängig von ihren Beziehungen mit Russland, ein exakt formuliertes System an eigenen Interessen haben, über die man reden und sie gegebenenfalls mit den russischen Interessen in Einklang bringen kann. Das völlige Fehlen von eigenen ukrainischen Interessen ist es letztlich auch, was die Formulierung einer eindeutigen russischen Ukrainepolitik behindert; es fällt schwer, die russische Seite aus diesem Grunde zu kritisieren. Die Verantwortung für das Fehlen einer klaren Agenda liegt im Mindesten bei beiden Seiten.

Es ist dabei klar, dass eine passive Wartehaltung, bis die ukrainische Elite einmal die ganze Katastrophe hinter ihrer (fehlenden) Einstellungen begreift, keinerlei Sinn macht. Gleichzeitig kann man wohl schwerlich mit schnellen Ergebnissen rechnen. Eine Lösung liegt in der Schaffung eines stabilen Images von Russland als dem eines befreundeten Nachbarn, in der Unterstützung ukrainischer Politiker, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Medienfiguren, die sich der Notwendigkeit bewusst sind, dass die Herangehensweisen der Ukraine an die Lösung ihrer kritischen Probleme dringend zu überdenken wären. Dabei wäre ist zweitrangig, ob diese Persönlichkeiten Russland gegenüber freundlich gesinnt sind. Das Kriterium für ihre Unterstützung muss in der Frage liegen, wie sie sich zur Frage der Schaffung eines starken ukrainischen Staates verhalten. Aber auch die Möglichkeit, in der die Ukraine ihrer Probleme nicht Herr wird und infolge dessen gezwungen ist, ihr Unabhängigkeitsprojekt einzustellen, muss Berücksichtigung finden – in diesem Falle muss Russland zu sofortiger Reaktion auf die Entwicklung der Ereignisse und zur Übernahme der Initiative auf den Gebieten sein, die sich objektiv an Russland orientieren. Dabei sieht die Gefahr eines Konflikts mit dem Westen nicht allzu groß aus (bei allen dann wahrscheinlichen Drohegbärden und Rhetorik). Kommt es also zu einem solchen Szenario, so darf Russland keinen Augenblick zögern, die ihm freunlich gesinnten Regionen der Ukraine unter seinen Schutz zu stellen.

Bei allem Gesagten ist die Variante eines Zerfalls der Ukraine aufgrund der kaum möglichen Vorhersagbarkeit eines solchen Prozesses absolut nicht wünschenswert; es gilt, alles erdenkliche zu unternehmen, einen solchen Zerfall zu verhindern.