“Medien: der Scharfschütze, welcher die Menschen auf der Gruschewskogo-Straße umgebracht hat, war ein russischer Söldner. Das nächste Opfer könnte ein Berkut-Mann sein.” (Twitter @euromaidan)

Infokriege sind so eine Sache… der “erste Twitter der ukrainischen Revolution” meldet, der “Scharfschütze”, welcher gestern Revolutionäre erschossen haben soll, sei ein “russischer Söldner” gewesen. Tja. Wahrscheinlich haben die, welche so lügen, gestern das Video mit dem Ermordeten nicht gesehen. 4 Schusswunden an Hals, Kopf und Brust. Die Gerichtsmedizin teilt mit, sie habe aus dem Körper des Ermordeten Schrotladungen (Kartätschen) entfernt. Sie klassifiziert die in der Leiche gefundenen Gegenstände genau so – als “Kartätsche”. Was nur eines bezeugt – der Mord geschah aus nächster Nähe, womit der Begriff “Scharfschütze” ad acta gelegt werden kann.

Aber dazu ist der Infokrieg ja auch da: “Scharfschützen nehmen Demonstranten ins Visier”, verfielfältigt die hiesige Presse. Dabei ist in allen Selbstzeugnissen des Straßenmobs von Opfern von Gummigeschossen die Rede. Hat mal jemand versucht, Gummigeschosse per Scharfschützengewehr zu verschießen? Oder Gummigeschosse per Pumpgun aus einer Entfernung, die für Scharfschützen geeignet wäre?

Klitschko intoniert auch bereits die Schlüsselphrase: “Die Regierung schießt auf das eigene Volk”. Von solchen Déjà vus bekommt man langsam Schwindelgefühle. Die anonyme Beschuldigung gewisser “russischer Scharfschützen” zeugt natürlich davon, dass es eines äußeren Feindes bedarf, wozu sich Russland am besten eignet. Natürlich wird niemand diesen ominösen russischen Scharfschützen vorzeigen können, ebenso im Dunkeln bleibt das Verfahren, mittels welchem man ermittelt hat, es sei ein Russe gewesen.

All das wäre ein überdimensionaler Witz, wenn es nicht insgesamt so tragisch wäre. Menschen sind in solchen Revolutionen nichts als Humanressourcen und Wegwerfartikel für die Strippenzieher und Technologen. Wen sie wollen, werfen sie dem Berkut entgegen; wen sie wollen, knallen sie ab. Der Zweck heiligt ihnen diese Mittel – das blutrünstige “Bäumchen der Freiheit” will gegossen werden, wenn es sein muss, aus Fässern.

Ungeachtet der heute erfolgten Erstürmung von Verwaltungsgebäuden und Parteizentren in der Westukraine – in Lwow, Rowno und Poltawa – ist das noch kein Zusammenbruch des ukrainischen Staates. Es kann vielmehr bedeuten, dass die Hintermänner das gestern von den “Oppositionsführern” gebildete Gegenparlament – die “Volksrada” – für nicht allzu effektiv halten. Ihr Skeptizismus ist vielleicht gerechtfertigt: schon einen ganzen Tag lang existiert dieses Revolutionsorgan, eigentlich müssten die vor lauter Emsigkeit schon dampfen, aber man hört einfach nichts von der Arbeit dieses Gremiums. Keiner schreibt und veröffentlicht bedrohliche Dekrete, es gibt immer noch keine “Volkspolizei”, keine “Freie Armee” und Geheimdienste, keine Forderungen an die Provinzregierungen, sich der “Regierung des Volkes” zu unterwerfen. Eine solche “Volksregierung” hat überhaupt noch niemand eingesetzt; mit anderen Worten, diese “Volksrada” sieht bisher aus wie ein Name ohne Inhalt, geschaffen, um einen konkreten Adressaten für ausländische Unterstützung zu haben.

Diese Passivität der Revolutionäre kann die ganzen bisherigen revolutionären Anstrengungen in wenigen Tagen in einem lauten, unanständigen Geräusch ausarten lassen. Irgendwas muss passieren – und fast die letzte verbleibende Variante ist die Schaffung eines ukrainischen Bengasi. Keine leichte Aufgabe, aber immer noch viel einfacher als in Syrien – in der Ukraine, insbesondere im Westen des Landes, gibt es eine ganze Palette an potentiellen Bengasis.

Zum libyschen Szenario fehlt allerdings noch eines, und zwar das wichtigste: in Libyen haben sich höchste Staatsbeamte aus dem Umkreis des Oberst Muammar Gaddafi gegen selbigen gewandt. Nicht nur ihrer Funktion, sondern auch ihrem Ansehen nach “hohe Tiere”. Sie und Bengasi machten es möglich, eine vollwertige Rebellion vom Zaun zu brechen, durch die all das spätere Unglück über das Land hereinbrach. In Kiew sieht man solch “hohe Tiere”, die dazu bereit wären, alles hinzuwerfen und irgendwohin zu rennen, bislang noch nicht.

Die Besetzung der Provinzverwaltungen ist demnach eher ein Versuch gewesen, der die möglichen Züge der Hintermänner andeutet. Die Gefahr droht weniger Janukowitsch; der Westen (auch der Westen der Ukraine) hat ihn ohnehin schon längst abgeschrieben. Es ist eine Drohung, die an die “Oppositionsführer” gerichtet ist: wenn ihr es nicht schafft, finden sich andere Führer.