Raskolnikow zur aktuellen Lage

17.04.2020, 08:46 apxwn

Raskolnikow verbrachte das Ende der Fastenzeit und die Osterwoche im Spital. Während der Genesung erinnerte er sich seiner Träume, die er im Fieber gehabt hatte. Während seiner Krankheit träumte er, daß die ganze Welt verdammt sei, irgendeiner schrecklichen, unerhörten und noch nie dagewesenen Seuche zum Opfer zu fallen, die aus Asiens Tiefen über Europa kam. Alle sollten umkommen, mit Ausnahme einiger sehr weniger Auserwählter. Es kamen neue Trichinen auf, mikroskopische Wesen, die sich in den Körpern der Menschen einnisteten. Diese Geschöpfe waren aber mit Verstand und Willen begabte Geister. Die Menschen, in die sie eingedrungen waren, wurden sofort zu Besessenen und Wahnsinnigen. Noch niemals, niemals hatten sich die Menschen für so klug und unwankbar in ihrer Wahrheit gehalten wie diese Angesteckten. Noch niemals hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Schlüsse, ihre sittlichen Überzeugungen und Glaubenssätze für unerschütterlicher gehalten. Ganze Siedlungen, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und rasten wie Wahnsinnige. Alle waren in Unruhe und verstanden einander nicht; ein jeder glaubte, daß er allein die Wahrheit fasse, und quälte sich beim Anblick der anderen, schlug sich vor die Brust, weinte und rang die Hände. Sie wußten nicht, wen und wie man richten sollte, was als gut und als böse anzusehen sei. Sie wußten nicht, wen anzuklagen und wen freizusprechen.

F.M. Dostojewski, „Schuld und Sühne“, Bd. 2, Epilog.