Der neuerliche Anschlag in Riad, der den stellvertretenden Chef des saudischen Geheimdienstes das Leben gekostet hat, ist – wie das bei kritischen Ereignissen in den Golfmonarchien so üblich ist – im Schatten geblieben und wurde in den Medien so gut wie nicht erwähnt. Es wurde alles unternommen, damit das Vorkommnis nach einer kurzen Meldung möglichst nicht erörtert wurde. Das Königreich hütet seine Geheimnisse, ganz besonders die Geheimnisse des Hauses Saud. Von Anfang an war allerdings eines klar: ein solcher Anschlag ist von den durchschnittlichen arabischen Schahiden nicht zu leisten, mindestens deshalb, weil deren Zellen sowieso von V-Leuten der Sicherheitsdienste unterwandert sind. Wenn also ein solcher Anschlag passiert, riecht es nicht gerade nach der Lunte arabischer Dschihad-Krieger.

Etwas später sind noch ein paar weitere Informationen durchgesickert, die es gestatten, ein paar interessante Schlüsse zu ziehen. Das erste wäre der Name des Opfers: Maschaal al-Qarni. Eine treue Beamtenseele, die bis 2009 – als Prinz Bandar bin Sultan noch Chef der Aufklärung war – bereits dieses Amt bekleidet hat. Er kündigte dort nach der Entlassung seines Chefs, dem er sehr nahestand, und ist erst vor kurzem wieder zu seinem Dienst zurückgekehrt, nämlich als Prinz Bandar wieder ins Kabinett zurückkehrte, aus dem er vor exakt drei Jahren heraus komplementiert wurde.

Eine kleine Abschweifung ist nötig. Dass das Haus Saud derzeit in einer Krise steckt, ist kein Geheimnis. Die Prinzen der „ersten Generation“, die den Thron und alle Schlüsselpositionen ihrem Alter nach einnehmen (wie es das Vermächtnis ihres Vaters war), sind allesamt sehr alt und gehen nach und nach aus „natürlichen“ Gründen von der Bühne, wobei die Thronerben die Könige irgendwie nicht zu überleben scheinen. Hinter den dichten Vorhängen der Paläste in Riad passieren seltsame Dinge, die man nur erahnen kann. Das wäre Thema eines eigenen, längeren Texts, hier ist es jedoch nur wichtig festzuhalten, dass sich die ältere Generation der Saud – und darin sind sich eigentlich alle einig – bedingt in zwei Richtungen gliedern lässt: der „Clan“ des derzeitigen Königs Abdallah, extrem konservativ, eng mit den USA verbandelt, sowie der Clan des derzeitigen (mal sehen, wie lange noch) Thronfolgers, ebenso eng mit den USA verbandelt, der dabei aber als etwas selbständiger in seinen Entscheidungen gilt.

Prinz Bandar ist nun aus der „zweiten“ Generation. Kein Sohn des Staatsgründers, sondern dessen Enkel. Er hat noch keinen direkten Anspruch auf den Thron, aber kaum jemand zweifelt daran, dass – wenn die Alten erst einmal aussterben – die Regeln beiseitegeschoben werden und man erst einmal zur Keule, oder majestätischer: zum Schwert greift. Der Einfluss der potentiellen Kandidaten wird von entscheidender Bedeutung sein. In diesem Sinne aber ist Bandar bin Sultan wahrscheinlich eines der absoluten Schwergewichte in Riad. Bevor er Chef des Geheimdienstes im Königreich wurde, war er viele Jahre Botschafter in den USA und hat sich eng mit dem dortigen Establishment verquickt, in erster Linie natürlich mit der Ölbranche und der Bush-Familie im Speziellen. Er ist mit Bush Senior wie Junior in solch enger Freundschaft verbunden, dass er auch „Bandar Bush“ genannt wurde.

Und diesen „Quasi-Joker“ verhaftet man 2009 urplötzlich, enthebt ihn aller Ämter und stellt ihn unter Hausarrest, gemeinsam mit seinen nächsten Mitarbeitern, von denen einer der nun umgekommene Oberst al-Qarni war. Offiziell wurde natürlich nichts verkündet, allerdings hat der meistens gut informierte Webster Tarpley damals mitgeteilt, dass der Prinz, nachdem er sich die Unterstützung einiger Cousins aus der „jüngeren“ Generation (Alter so 55-60 Jahre) gesichert hat, einen Umsturz und die Entmachtung des Königs Abdallah plante und die hundertprozentige „amerikanische“ Ausrichtung des Königreichs beenden wollte, und – hört, hört! – wirtschaftliche und auch militärische Zusammenarbeit mit Russland im Programm hatte, wobei die Bemühungen in dieser Richtung schon eine Zeit vorher begannen, so dass man selbst gar von einem „strategischen Shift“ sprach. Bandar traf sich am 14. Juli 2008 mit Wladimir Putin – damals noch Premierminister der RF und unterzeichnete eine Reihe von Verträgen: gemeinsame Bemühungen bei der Erschließung des Kosmos bis hin zur Lieferung russischer Militärtechnik – Panzer, Hubschrauber und Luftabwehrsysteme vom Typ S-300 und S-400.

Schon zu der Zeit – und Bush war noch Präsident – rief diese Pirouette des saudischen Prinzen den Unmut einflussreicher amerikanischer Medien hervor, vor allem solcher, die den Demokraten nahestehen. Beim Treffen zwischen Bandar und Putin ging es um durchaus ernstere Dinge als nur Handelsbeziehungen. Der „strategischer Shift“ ist mit Sicherheit auch von Überlegungen zu den möglichen Entwicklungen der Golfregion im Kontext der Umstrukturierungen des Nahen Ostens im Projekt des sogenannten „Großer Naher Osten“ ausgegangen.

Der bereits erwähnte Webster Tarpley berief sich auf seine Quellen und behauptete, dass sich Bandar während seiner Jahre in den Staaten ein umfangreiches Netz aus Informanten aufgebaut hat, so dass er von den Überlegungen der Demokraten (speziell Obamas) Wind bekam, die Region umzugestalten, wodurch er zu der Einsicht gelangte, dass der Westen über kurz oder lang das Haus der Saud abschreiben wird. Denn in seiner jetzigen Form passen die Saudis in keinster Weise zu den Plänen, die von der „Zivilisation“ hinsichtlich der Region entwickelt worden sind. Anders gesagt, er begriff, dass die USA, welche einerseits Riad keine Stabilität garantieren können, andererseits aber die volle Kontrolle über das arabische Öl behalten wollen, zu allem fähig sind – von der Spaltung des Königreichs bis zur Beseitigung der Herrscherdynastie. Von daher auch die „Verschwörung“ und deren Auffliegen, das nach Meinung der damaligen Experten von König Abdallah persönlich auf Forderung aus Washington betrieben wurde.

Und nun plötzlich die Sensation – König Abdallah enthebt seinen eigenen Bruder und treuen Gefährten, Prinz Muqrin, vom Chefposten im Geheimdienst und setzt Prinz Bandar wieder auf diesen Posten – dabei ist Bandar nicht aus seinem Clan, im Lichte der Ereignisse von 2009 nicht vertrauenswürdig. Was das Beste ist, Bandar bin Sultan ist jetzt nicht nur Chef des Geheimdienstes, sondern auch noch Vorsitzender im Nationalen Sicherheitsrat des Königreiches und hält damit alle Gewaltorgane des Landes in seinen Händen, die – sollte es einmal nötig sein, durchaus dazu genügen, mit dem ältesten Sohn des Königs klarzukommen, der informell Kontrolle über die Hauptstadt Riad hat, ebenso auch mit wiederum dessen ältesten Sohn, dem die „heiligen Stätten“ unterstehen.

Kurz zusammengefasst ist Prinz Bandar bin Sultan zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter der sprichwörtlichen „Jugend“ der Saud zu einem ernsthaften Anwärter auf den Thron geworden, und die Zeit dieser „Jugend“ steht aus oben erwähnten biologischen Gründen kurz bevor. Allein der Fakt seiner Rückkehr in die große Politik bedeutet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass der Großteil der an die Macht drängenden Generation hinsichtlich eines Verzichts auf die vollkommene US-amerikanische Ausrichtung des Königreichs im Konsens ist. Die Amerikaner schreiben, ohne mit der Wimper zu zucken, absolut jeden ihrer vormaligen „Freunde“ ab, wenn sie die Zeit dafür für reif halten. Spielt man das große Spiel aber mit Russland (und möglicherweise mit China), gibt es Chancen, sich zu halten.

Zurück zum Anschlag. Auf wessen Konto könnte der gehen? Sozusagen: cui bono?

Es gibt eine Menge an Möglichkeiten.

Man könnte annehmen, dass einer der zahlreichen Prinzen dahintersteckt, der bestrebt ist, den an Einfluss gewinnenden Bandar ein wenig in seine Schranken zu weisen und ihm anzudeuten, dass neue Figuren im alten Spiel nicht erwünscht sind.

Nicht auszuschließen ist auch, dass jemand der Feinde Riads hinter dem Anschlag steckt, jemand, der damit unzufrieden ist, dass Saudi-Arabien, ein traditioneller Erdöllieferant, der seine Außenpolitik immer relativ vorsichtig betrieben hat, heute – ob aus eigenem Antrieb oder auf Weisung vom anderen Ufer des Atlantik – Ansprüche auf die Rolle einer regionalen Großmacht erhebt. Bis hin zu solchen Dingen wie der De-facto-Annexion Bahrains. Das gefällt übrigens den Kataris nicht besonders. Allerdings würde wahrscheinlich nicht einmal das aggressive Haus Al-Thani es wagen, sich ohne irgendeine Rückendeckung mit Prinz Bandar anzulegen. Solch eine Rückendeckung haben sie aber allem Anschein nach nicht.

Schlussendlich – geht man davon aus, dass die Überlegungen hier nicht allzu sehr aus der Luft gegriffen sind und Prinz Bandar nach wie vor mit Russland zusammenarbeiten will – dient dieser Anschlag ehestens als Wink mit dem Zaunpfahl an einen der wahrscheinlichen Thronfolger, er möge sich doch bitte von Beziehungen zum Kreml enthalten. Oder an den Kreml, dann wäre die Nachricht: „Das ist unsere Kuh, die melken wir selber.“

Viel mehr kann man aus jetziger Sicht dazu nicht sagen. In einigen Meldungen wurde auch mitgeteilt, dass Bandar bin Sultan bei dem Anschlag mit umgekommen sei. Ist er aber nicht, wie es aussieht.