Yusuf al-Qaradawi

Der “Syrische Nationalrat” (SNC) gilt den Aggressoren nicht mehr als “legitime Vertretung des syrischen Volkes”. Wenigstens ist er das nicht mehr für die USA. Die nutz- und talentlosen Verbraucher ausländischer Zuschüsse, die 20, 30 oder 40 Jahre lang nicht in Syrien gewesen sind, haben nun einmal keinerlei Autorität im Lande und können niemanden hinter sich bringen. Der SNC ist für die Amerikaner und die USA im Speziellen schon eine längere Zeit eher unbequem geworden und wurde bestenfalls noch unterstützt, um den Schein der Absicht irgendeines “friedlichen Übergangs” zu wahren. Es gab bezüglich seiner Handlungsfähigkeit wahrscheinlich auch im Westen keine großen Illusionen, aber dieses Projekt hatte es gestattet, die ausufernde Aktivität analoger Projekte des Katar und Saudi-Arabiens etwas zu bremsen; deren Oppositionskonzepte schließen solche Merkmale des SNC, wie etwa dessen Säkularität, von vornherein aus.

Anstelle des SNC soll nun also ein neues Organ der Opposition, nämlich ein “Nationaler Initiativrat” treten. Und das Ding wird wirklich neu, schon allein deshalb, weil er in Doha gegründet und auch dort tagen wird. Personell kann man von einer deutlichen “Islamisierung” des Rats ausgehen; der in Doha residierende Chefideologe der Moslembrüder, Yusuf al-Qaradawi, welcher vor kurzem durch aktive Ausfälle gegen die syrische Regierung (und im Zusammenhang damit auch gegen Russland) aufgefallen ist, wird mit Sicherheit einer der wichtigsten Berater dieser neuen Speerspitze einer “Demokratisierung” des Landes. Wenn er einmal dabei ist, kann er auch gleich die politischen Ziele der Opposition formulieren – es wird ja wohl nicht der Emir selbst darniedersteigen und sich mit seinen eigenen Handlangern abgeben.

Von den vier gegeneinander konkurrierenden Umsturzprojekten in Syrien – also denen Europas (SNC), der Türkei (FSA), Saudi-Arabiens (Salafiten) und Katars (Moslembrüder) – bekommt jetzt offenbar Katar den Zuschlag. Die USA, welche in ihrer Rolle als oberster Schiedsrichter den neuen “Initiativrat” schon im Vorfeld unterstützen, haben Emir Al Thani grünes Licht dafür gegeben. Deswegen ist es wichtig zu verstehen, welche Strategie der Emir verfolgt und auf welche Weise sie sich von denen der drei Konkurrenzprojekte unterscheidet.

Europa, und allen voran Frankreich, setzt auf den SNC als eine Art koloniale Administration, die in der Lage wäre, die Zustände in Syrien etwa zu den Zeiten des Völkerbundmandats zurückzudrehen. Bisher war es genau dieses französische Projekt, das politisch am nachhaltigsten verfolgt wurde; die erstaunliche Pressekonferenz dieser Tage in Paris, auf der Frankreich und Russland davon sprachen, es gebe bezüglich des Konflikts in Syrien zwischen den beiden Ländern keinerlei Meinungsverschiedenheiten, spricht beredt davon, dass Frankreich nun von seinen Pflichten befreit ist: das französische Syrienprojekt ist auf Eis gelegt, deshalb kann Frankreich sich nun in aller Ruhe in die Reihen derer gesellen, welche die Situation einfach nur aus der Entfernung beobachten. Wie zum Beispiel Russland.

Das türkische (bedingt “neo-osmanisch” zu bezeichnende) Projekt ist dadurch charakterisiert, dass die FSA als eine Art Mameluken fungieren sollte und eine den Türken loyale Machtstruktur im “postrevolutionären” syrischen Welajat stellt, die kraft ihrer revolutionären Autorität gewisse nonkonforme Entscheidungen in Damaskus zurück ins türksiche Fahrwasser leitet. Oder Material für Personalrotationen in der Regierung stellt. Wie solche Rotationen vorgenommen werden können, sah man in den schrecklichen Videoaufnahmen von der Erschießung syrischer Soldaten vor ein paar Tagen.

Religionen und Konfessionen in Syrien

Saudi-Arabien ist an einer maximalen Erschütterung der Fundamente des säkularen Syrien interessiert und daran, dass der Konflikt in einen offenen Religionskrieg mündet, welcher eine Zerteilung Syriens in religiöse und ethnische Enklaven zur Folge hätte, einschließlich Vertreibung oder Umsiedlung von Minderheiten. Eine “postrevolutionäre” syrische Regierung sieht in der Vorstellung der Saud eine aggressive Sammlung sunnitischer Provinzen und der Expansion dieser Sammlung in die Nachbarstaaten aus – in erster Linie in den Irak und den Libanon. Ideal ist dabei die Schaffung einer rechtgläubigen, sunnitischen Region von den Grenzen des Iran bis zum Mittelmeer – eine Nahost-Variante des “von der Maas bis an die Memel”. Als Folge dieses Ansinnens natürlich endlose Konflikte an den Außenbezirken dieser neuen Struktur und damit die Möglichkeit, das ganze durch den “Arabischen Frühling” fanatisierte und hochexplosive Menschenmaterial des Nahen Ostens und Nordafrikas dort in die Mühlen zu schicken. Wirtschaftlich zielt Saudi-Arabien dabei auf die Kontrolle der weltweit zweitgrößten Erdölvorkommen im Irak ab.

Dem Katar sind solche Interessen fremd. Ganz im Gegenteil, der Emir verfolgt einen möglichst schnellen Untergang der Regierung Assad, möglichst ohne, dass dabei die Fundamente des Staates erschüttert werden oder gar zerfallen – also die ägyptische Variante, bei der die “gemäßigten” Moslembrüder an der Spitze stehen, möglicherweise sogar in einer Koalition mit radikalen Islamisten und/oder säkularer pro-westlicher Intelligentia. Eine solche Koalition hätte den Vorteil, dass sie endlos mit sich selbst und ihren internen Querelen beschäftigt ist und dabei die Aktivitäten prokatarischer Kreaturen nicht behindert. Nach einer relativen Befriedung wird der Katar an der Wiederaufnahme der auf Eis gelegten Pipeline-Projekte durch Syrien interessiert sein (in erster Linie die der ägyptischen AGP und der irakischen Kirkuk – Baniyas), die nun unter der Kontrolle des Emirats ablaufen, der dann sein katarisches Rohr an das System anschließen kann. Das Hauptinteresse des Katar gilt in erster Linie einer Erhöhung seines Erdgasexports Richtung Europa. Die Megatanker (Q-Max) des Emirats haben einen Nachteil, nämlich ihre Maße. Sie kommen nur mit relativer Mühe durch den Suezkanal, ihr Tiefgang geht ans Limit der meisten europäischen Häfen. Die Vergrößerung der ohnehin schon aus 70 Tankern bestehenden Flotte ist wenig sinnvoll und zu kostspielig – bisher wurden bereits 15 Milliarden US-Dollar dahinein investiert.

Hat der Emir einmal Kontrolle über das Pipelinenetz des Nahen Ostens, kann er nicht nur bequem seine Krallen um die Hälse der meisten Player auf dem Erdgasmarkt des Nahen Ostens platzieren, sondern er wird auch zum zweitgrößten Erdgaslieferanten der Europäischen Union und bekommt eine gute Chance, die europäischen Interessen von Gazprom zu behindern und weiter zu avancieren. Das nun wiederum entspricht voll und ganz den US-amerikanischen Interessen in Europa.

Da durch die Gründung des Initiativrats dieses katarische Syrienprojekt grünes Licht bekommt, so bedeutet das zweifelsohne den Übergang in eine noch aktivere Phase des Konflikts. Vielleicht wird auf diese Weise sogar der Vorschlag Al Thanis Realität, der vor der UN-Vollversammlung von einer “Intervention arabischer Staaten” sprach. Zum jetzigen Zeitpunkt, an dem die Armee schon weitgehend ausgeblutet und die Bevölkerung mehr und mehr entnervt ist, so dass sie nur eines will: das Ende dieser Schrecken, könnten “Friedenstruppen” aus arabischen Staaten auch mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen werden. Dazu müsste der Westen sich allerdings einer unangenehmen Aufgabe widmen, nämlich der endgültigen Erledigung des Problems der Wehrhaftigkeit der syrischen Armee und, noch wichtiger, der Stabilität der syrischen Führung insgesamt, die nach all der Krisenzeit, den Abwerbungen und Desertationen, den Mordanschlägen usw. immer noch stabil und monolithisch auftritt, so dass Syrien eben steht und nicht fällt. In einfache Sprache übersetzt lautet diese Aufgabe: Beseitigung der syrischen Führung. Ein Mord an den Assad-Brüdern wird mit großer Wahrscheinlichkeit den Niedergang der politischen und militärischen Strukturen bedeuten, wonach die arabischen “Friedenstruppen” es bestenfalls noch mit lokalen Widerstandsnestern zu tun haben, welche im Medienbewusstsein kaum noch eine Rolle spielen werden. Unsere Medien werden dann nämlich wieder von “tanzenden Menschen auf den Strassen” berichten. Und das passt auch: Katar hat den Finger auf dem Knopf des wichtigsten Massenmediums im Nahen und Mittleren Osten: Al-Dschasira. In diesem Licht sieht das Syrienprojekt des Katar am “nachhaltigsten” aus.

Anastasia Popowa / Vesti.ru in Aleppo