Bei allen Versionen und Varianten, die man als die Gründe für das Engagement des „Imperiums“ in der Ukraine inzwischen hervorgeholt haben mag – primär also die Erzeugung von Instabilität an den russischen Grenzen, „Einkreisungsstrategie“, auch die Schaffung von Spannungen zwischen Russland und der EU – speziell Deutschland -, gibt es weitere, weniger offensichtliche Dinge, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen mögen oder gar unlogisch erscheinen.

US-amerikanische Interessenssphären

Lawrow telefoniert unentwegt mit Kerry und fordert ihn auf, den Einfluss der USA auf die Kiewer Putschisten geltend zu machen, diese mögen das Genfer Abkommen respektieren und umsetzen, ansonsten wird es ziemlich schnell zu einem bloßen Stück Papier. Das zu fordern ist wahrscheinlich ziemlich viel verlangt, denn so, wie es aussieht, hat Kerry keinen allzu großen Einfluss darauf, wer & wie in den ukrainischen Weiten randaliert. Ein charakteristisches Zeichen dafür, dass es innerhalb der US-Regierung offenbar wieder gewisse Spannungen oder gar Konfrontationen gibt, ist das Gebaren Obamas: seine Äußerungen zum ukrainischen Thema lassen sich am besten mit „weder Fisch noch Fleisch“ beschreiben. Ganz ähnlich benahm er sich Ende August vergangenen Jahres nach der Giftgas-False-Flag in Ostghouta in Syrien. Im Grunde ist er in die Versenkung abgetaucht.

Wenn die jetzige Lage mit der Ukraine insofern der Lage nach dem saudisch-israelisch gesponsorten Chemiewaffenangriff in Ostghouta ähnelt, so gibt es die Möglichkeit, die Konfrontation in der Ukraine ähnlich zu lösen – durch einen Kompromiss, der es Obama gestatten würde, die Lage zu deeskalieren und dabei das Gesicht zu wahren. Für ihn wäre das nicht das erste Mal, aber da kann er wohl nichts machen – denn wer ist schon Obama: nur ein Mittelklasse-Politiker in der Ära Sergej Lawrow. Eskaliert die Konfrontation noch weiter, kann sie alle sehr teuer zu stehen kommen. Eine Entsendung russischer Streitkräfte in die Ostukraine beispielsweise führte zweifellos zu einer globalen Eskalation. Das nun läge durchaus im Interesse einer bestimmten Gruppierung innerhalb der US-Eliten, deren Gesicht man eigentlich kennt (deutlicher bei der „Washington Post“ hier). Daran kann es auch liegen, dass die Eskalation in der Ukraine, die eigentlich auf die nächsten regulären Präsidentschaftswahlen 2015 terminiert war, schon Ende 2013 begann.

Natürlich ist die Schaffung von Instabilität an den russischen Grenzen ein wichtiges Unterfangen. Spannungen zwischen Russland und der EU – umso besser in strategischer Hinsicht. Dabei gibt es aber auch noch taktische, kurzfristigere Ziele, um derentwillen man normalerweise keine allzu gewieften Kombinationen aufstellt, sondern brachial handelt. Und Anzeichen von Brachialität haben die Vorgänge in der Ukraine allemal.

Bei aller oberflächlich scheinbar fehlenden Logik kann die vorgezogene Instabilität in der Ukraine auch mit Afghanistan zusammenhängen. Konkreter: mit dem notwendigen US-Truppenabzug von dort. In deren Verlauf im vergangenen Jahr die Sturheit des afghanischen Präsidenten Karsai und der Misserfolg in den Gesprächen mit den Taliban stehen – wo es alles in allem darum ging, dass US-Truppen auch nach dem NATO-Truppenabzug im Lande verbleiben könnten. Bei den Konstellationen um Afghanistan hat die Version, die Ereignisse in der Ukraine könnten auch dadurch bedingt worden sein, durchaus ihre Berechtigung.

Vorgeschichte: Jahresrückblick 2013: Afghanistan

Der NATO-Truppenabzug steht nämlich rein logistisch vor beträchtlichen Schwierigkeiten. Noch vor drei Jahren haben die USA aus unerfindlichen Gründen mit Militäroperationen in Pakistan begonnen – militärisch von keinerlei Wert, dabei führten sie aber zu einer schweren Krise in den Beziehungen zwischen Pakistan und den USA. Im Grunde begann diese Scharade mit der in jedweder Hinsicht eigenartigen „Liquidierung Bin Ladens“, später aufgehübscht durch die Ermordung pakistanischer Grenzer und schließlich durch die vollkommen ungehobelt durchgeführten Drohnenangriffe auf Zivilisten im Stammesgebiet Pakistans. Das Ergebnis all dieser Aktionen konnte man vorhersehen – Pakistan legte seine Beziehungen zu den Vereinigten Staaten auf Eis und unterbrach de facto die Versorgung des NATO-Kontingents in Afghanistan. Ein NATO-Abzug aus Afghanistan durch Pakistan ist unmöglich geworden.

Power, Clinton, Rice

Die USA und mit ihnen die NATO gerieten in eine fatale Abhängigkeit von Russland, die zumindest bis zum endgültigen Truppenabzug aus Afghanistan anhalten würde. In der nun folgenden Politik konnte dieser Umstand nicht missachtet werden. Dabei erstarkten ganz klar die Positionen der inneramerikanischen „Kriegspartei“, die ihre Stellungen in den wichtigsten Ministerien halten konnten, welche Obama für seine zweite Amtszeit entsprechend seiner Politik neu zu besetzen versuchte. Kerry beispielsweise war eine Personalie im Hinblick auf eine Normalisierung des Verhältnisses zum Iran – er steht dabei aber inmitten einer aggressiven Truppe aus verrückten Weibern mit Victoria Nuland in der Hauptrolle. Sie verkörpert geradezu die von den USA ausgehende Aggression sowohl in Syrien, als auch in der Ukraine. Kerry war fortan genötigt, anstelle der von der Obama-Fraktion angedachten neuen Nahost-Politik überall die Brände zu löschen, die von der Kriegspartei weltweit gelegt werden, während seine Hauptbestimmung immer mehr ins Hintertreffen gerät. Dadurch lässt sich auch das Misstrauen der konservativen Elite des Iran erklären, die Präsident Rohani die Entspannung im Verhältnis zu den USA im Grunde zur Last legt; Vertrauen in einen solchen ziemlich instabilen „Partner“ ist aus ihrer Sicht vollkommen fehl am Platze.

Die Sache ist indes eine andere. Die „Kriegspartei“ in Washington (immer inneramerikanisch gesehen; man könnte sie auch bedingt „Republikaner“ nennen – aber auch da sind die Grenzen fließend, wofür Hillary Clinton das beste Beispiel ist) ist zwar nicht direkt bemüht, den NATO-Truppenabzug aus Afghanistan ganz zu verhindern, aber doch so zu gestalten, dass trotz des Abzugs eine US-amerikanische Präsenz gewährleistet bleibt. Dazu braucht es eine Lage, die einen Truppenabzug enorm erschwert oder ihn wie eine Flucht aussehen ließe, so dass Obama gezwungen wäre, unter allen Umständen irgendwie in Afghanistan zu bleiben, auch wenn der neue afghanische Präsident kein entsprechendes Abkommen unterzeichnen sollte.

Militärische Versorgungswege nach Afghanistan. Bild: Gene Thorp / The Washington Post

Die Einsätze sind beträchtlich: die in Zentralasien recht sicher bevorstehende Serie an „farbigen Revolutionen“ lässt sich ohne US-amerikanische Truppenpräsenz in der Region nur schwer lostreten. Die Region ist zwar auch ohne sie volatil, aber die regionalen Eliten sind auch keine Janukowitschs und würden sich im Ernstfall nicht auf langwierige Zeremonien mit islamistischen Terrorbrigaden einlassen. Und derzeit sieht es noch so aus, als würde die Islamische Bewegung Turkestans, die allen Anzeichen nach zur „ideologischen Klammer“ von Terrorbrigaden in der Region werden soll, ohne beträchtliche militärlogistische Unterstützung in irgendeinem Ausläufer des Fergana-Tals zugrunde gehen. Das hieße, dass jahrzehntelange Bemühungen um den Aufbau dieser de facto Proxy-Armee im Sande verlaufen würden.

Diese „Revolutionen“ liegen deswegen im Interesse der USA (und dabei ist das eine Schnittmenge in den Interessen sowohl der Obama-, als auch der Hillary-Fraktion), weil damit ein Abschneiden der Rohstoffversorgung Chinas über das Festland und eine Umleitung dieser Ströme in Richtung Indien zu schaffen wäre. Das führt potentiell zu einem Wiederaufflammen (denn richtig ausgetragen war er nie) des Konflikts zwischen den größten Ländern der Region (und eigentlich auch der Welt) – China und Indien. Ein Anheizen dieses Konflikts kommt den USA gelegen, denn ganz wie nun im Falle der Ukraine und Russland vermutet ist es ebenso wichtig, mindestens mittelfristig Spannungen an der Peripherie schnell wachsender, konkurrierender und großer Märkte zu schaffen, in denen wichtige globale Player entstehen könnten, die eine monopolare US-Hegemonie gefährden würden. Die Islamische Turkestan-Partei zieht dabei auch in der uigurischen Autonomie in Xinjang, dazu käme potentiell noch die ebenso jahrzehntelang gepflegte Angelegenheit mit Tibet. Beides Punkte, über die man hierzulande schon seit langer Zeit sympathisierend berichtet. Das Ziel dabei sind dabei aber nicht einfach nur Unruhen, sondern solche, die sich über Jahre selbst aufrechterhalten. Und ein Umleiten von Rohstofflieferungen von China nach Indien bietet dazu alle Voraussetzungen.

Dieses Thema ist für sich genommen interessant genug, aber für den Moment soll es nur um die Folgen gehen. Die Ukraine kann – und soll nach der Meinung der US-amerikanischen Kriegspartei in diesem Szenario – zur Ursache einer wesentlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und den USA werden. Und zwar in etwa einer solchen Verschlechterung, die Russland dazu bringt, etwas ähnliches zu veranlassen wie vorher schon Pakistan – womit ein Abzug des NATO-Kontingents über Russland unmöglich würde. Dass hieße, dass das Militärpersonal und die wertvollste Militärtechnik auf dem Luftweg evakuiert werden müssten, der Rest, ob man das will oder nicht, müsste vor Ort verbleiben und durch Kontingent gesichert werden. Der Abzug des ganzen Militärplunders auf dem Luftweg würde es sprichwörtlich vergolden und das US-Budget eine solche Münze kosten, dass Obama von seinen innenpolitischen Gegnern dafür sofort gefressen würde.

Auf jeden Fall kann eine solche Konstruktion – nichts anderes ist es – durchaus erklären, aus welchem Grunde es gerade jetzt notwendig war, einen Haufen Hirnverbrannter Spinner und Polizeikräfte im Zentrum Kiews abzuknallen. Sie starben nicht umsonst – und sie wurden auch nicht für Freiheit und Gerechtigkeit geopfert. Sie starben für eine weit höhere Materie, über die ihnen natürlich niemand zu erzählen gedachte. Bei einem Halbwilden genügt es, ihm etwas Ein- oder Zweisilbiges nebst möglichst vielen Interjektionen einzutrichtern. „Allahu akbar“ oder „Slawa Ukraine“. Wahrscheinlich haben nicht einmal die Putschisten allzu viel Einblick in diese Sphären, ihre Ziele sind weit weltlicher. Klauen und abhauen, in etwa auf dieser Ebene.

Die Frage für Russland wäre nun, ob es sich auf dieses von einer der US-Parteien inszenierte Spiel einlassen soll oder nicht. Ob es also, wie in den Jahren seit Jelzin, nur Objekt der US-amerikanischen Weltpolitik ist. Alle Anzeichen der letzten Monate deuten darauf hin, dass Russland als Subjekt zu handeln gewillt ist. Wenn das zutrifft, so wird die russische Führung alles erdenkliche unternehmen, um den heißen ukrainischen Brei möglichst ohne weitere Verschärfung der Beziehungen mit den USA abzukühlen. Wenigstens ohne einen Abbruch dieser Beziehungen.

Taliban beim Posen. Foto: PAN

Ein NATO-Truppenabzug nach den Vorstellungen der US-„Kriegspartei“ ist für Russland auch nicht annehmbar – der Zustrom an Drogen bliebe (in evtl. etwas geringerem Maße) erhalten, dazu käme aber die Bedrohung Zentralasiens durch die erstarkten Taliban. Dazu wäre das US-Militär wieder weltweit recht frei verfügbar und würde zu einem Faktor, mit dem man global rechnen muss. Das, ein zerrüttetes Verhältnis zwischen Russland und den USA plus die Aussicht, dass Russland ein paar Millionen Ostukrainer / „Kleinrussen“ zu versorgen hätte, falls die aufgezwungene Eskalation dazu führen sollte, dass russische Truppen dort die Kontrolle übernehmen müssen – vor dem Hintergrund, dass Russland als „Aggressor“ dasteht – sind ziemlich schlechte Aussichten.

Heute ist es Russland, das eine Gratwanderung unternimmt. Es gilt, die Junta zu zerschlagen, dabei das Verhältnis zu den Amerikanern nicht gänzlich zu zerstören und die Bandera-Brigaden wenigstens in den galizischen Westen zurückzudrängen. Dazu käme, dass ein Auseinanderbrechen der Ukraine zu verhindern wäre, oder den Prozess wenigstens so zu gestalten helfen, dass er nicht nach einem jugoslawischen Szenario aussieht. Genau das wäre ein Konter gegen die Absichten der US-Kriegspartei, aber wahrscheinlich könnten sich die Russen dabei auf eine Undercover-Unterstützung durch die noch halbwegs zurechnungsfähige Fraktion – Obama und Kerry – stützen.

Das alles mag nur einer von zahlreichen Aspekten sein; aber auch dieser wird in Moskau mit Sicherheit berücksichtigt. Moskau ist deswegen ganz offensichtlich, in allen Äußerungen der führenden Diplomaten nachvollziehbar, in keinster Weise Scharfmacher, sondern Diplomat. Heute sprach Lawrow von einer theoretischen Notwendigkeit, russische Bürger durch russische Truppen schützen zu müssen. Lawrow ist Außenminister. Das muss man bedenken, wenn man die wirklichen Pläne und Strategien im Hintergrund ergründen will. Käme eine solche Äußerung von Schojgu, dem Verteidigungsminister, dann wäre das etwas ganz anderes. So aber ist das ganze Szenario immer noch eine Schlacht, die diplomatisch gegen die US-Kriegspartei geführt wird. Lawrow hat in seinem heutigen Interview außerdem ganz explizit erwähnt, dass man sich auch zu Syrien und Iran geeinigt hätte – zum Ende dieses Texts noch einmal eine Andeutung, dass dessen Richtung so falsch nicht sein kann.

PS: Der Versorgungsweg für NATO-Truppen über Pakistan ist (mal wieder, und nur de jure) seit Ende Februar 2014 geöffnet. Durch zahlreiche Attacken aber, ganz abgesehen von der Perspektive dieses Wegs, als zweifelhafte Richtung eines Abzugs zu behandeln.